Die Sünderin von Siena
oder irgendwo außerhalb leben.«
Unschlüssig schaute der Rektor wieder zu Mamma Lina.
»Der Kleine war also wieder gesund«, sagte er. »Dafür gibt es mehrere Zeugen. Doch dann ist er plötzlich gestorben. Wie und vor allem woran? Genau das haben wir hier aufzuklären.« Er schien nachzudenken. »Womöglich ist in Eurem Haus etwas vorgefallen, das Ihr wohlweislich verschweigt. Habt Ihr den Kleinen gezüchtigt oder anderweitig misshandelt? Gab es Streit? Mit Euch? Oder den anderen Kindern? Ist er deshalb weggelaufen? Es muss doch einen plausiblen Grund geben!«
»Gegen keines der Kinder hab ich jemals die Hand erhoben«, sagte Mamma Lina. »Das schwöre ich im Namen der allerheiligsten Jungfrau. Ich liebe sie alle, als hätte ich sie selber geboren.«
»Fragt sie doch einmal nach der anderen!«, meldete sich nun wieder Celestina zu Wort. »Nach jener verheirateten Frau, die vor einiger Zeit bei ihr eingezogen ist. Vielleicht weiß die ja was über Mauros plötzlichen Tod zu erzählen.«
Erneut richteten sich Barnas helle Augen fragend auf Mamma Lina.
»Das ist richtig«, räumte diese ein. »Gemma lebt bei uns … Gemma Santini. Sie hilft mir beim Kochen. Und bringt den Kindern Lesen und Schreiben bei.« Sie nestelte an ihrem Schleier. Trotz des schwülen Nachmittags trug sie ein hochgeschlossenes Kleid und darüber einen dunklen Wollumhang.
»Gemma Santini?« Barnas rötliche Brauen zogen sich zusammen. »Wer soll das sein? Redet Ihr etwa von Monna di Cecco?« Seine Stimme hob sich wie bei einem Lehrer, der ungehorsame Kinder zu maßregeln hat. »So lautet nämlich ihr rechtmäßiger Name. Ihr Gatte ist ein Kaufmann mit makellosem Ruf und einem mehr als großzügigen Herzen, dem Santa Maria della Scala viel zu verdanken hat.«
»Für uns ist sie einfach nur Gemma.« Lina klang angestrengt. »Wir haben uns alle sehr an sie gewöhnt.«
»Dann sollten wir diese Gemma di Cecco ebenfalls befragen«, schlug der Richter vor und vermied nach wie vor peinlichst jeglichen Blickkontakt mit Mamma Lina. »Vielleicht erhalten wir durch sie neue Aufschlüsse.«
Wieder hörte man, wie der Rektor geräuschvoll in den Pergamenten blätterte.
»Ich will außerdem Minucci dazu hören, der den Kleinen aufgefunden hat«, sagte Barna. »Hat man ihn eigentlich schon benachrichtigt?«
»Das kann ich gerne für Euch besorgen. Aber meint Ihr wirklich, dass das nötig ist? Messer Minucci hat gewiss nichts damit zu schaffen.« Vor Aufregung klang Celestinas Stimme schrill. »Er wäre niemals fähig, einem Kind auch nur ein Haar zu krümmen. Dafür lege ich jederzeit meine Hand ins Feuer.«
»Dann pass bloß auf, dass du sie dir nicht verbrennst …«
Lauter Trommelwirbel ließ die Versammelten zusammenfahren. Vor allem Mamma Lina starrte wie gebannt zum Fenster.
»Bedeutet das Krieg?«, stieß sie hervor. »Sind die Trommeln eine Warnung vor dem Feind?«
Rektor und Apotheker tauschten ein wissendes, überlegenes Lächeln.
»Die Contraden üben für den Palio«, sagte Barna. »Unser Pferderennen, das alljährlich zu Ehren der Gottesmutter stattfindet. Manche von ihnen neigen allerdings zur Übertreibung und fangen schon Wochen davor an. Das alles mag neu und ungewohnt für Euch sein. Denn Ihr stammt ja ursprünglich aus … aus …« Abermals Blättern und Rascheln. »Wo hab ich es denn gelesen?«
Im Uffizium war es plötzlich sehr still.
»Zuletzt hab ich in Venedig gelebt.« Linas Stimme hatte ihre frühere Festigkeit wiedererlangt. »Dort allerdings kennt man solche Gebräuche nicht.«
»Unsere der allerheiligsten Jungfrau geweihte Stadt ist eben anders«, sagte der Rektor stolz, »in vielerlei Hinsicht. Es ist nicht immer leicht für Fremde, das zu begreifen. Deshalb bleiben wir Sieneser ja auch so gern unter uns.«
Die Abfuhr hätte deutlicher kaum ausfallen können, doch Mamma Lina ließ sich nicht einschüchtern. Noch immer stand sie sehr aufrecht vor dem großen Tisch, das Gesicht blass, die Züge gefasst. Nur die geröteten Augen verrieten, wie viel sie geweint hatte.
»Kann ich ihn noch einmal sehen?«, fragte sie. »Es ging alles viel zu schnell.«
»Möglicherweise.« Der Rektor hatte sich ebenfalls erhoben. »Allerdings erst, wenn alle Untersuchungen abgeschlossen sind.«
»Wo… liegt er jetzt?«
»Im Eiskeller. Wie wir es auch sonst handhaben.«
Lina gab einen dumpfen Laut von sich.
»Aber dort ist es doch viel zu kalt«, flüsterte sie. »Mein kleiner Liebling hat immer so leicht gefroren und konnte
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