Die Sünderin
dass die Gedanken beisammenblieben wie eine ängstliche Lämmerherde, dass sie sich nicht plötzlich auf und davon machten. Leider taten sie das meist, wenn die Wölfe sie hetzten. Aber nicht in dem Gespräch über Frankie, den Zuhälter. Da hielt sie die Herde eisern beisammen und die Wölfe fern.
Warum nicht, hielt sie dagegen. Frankie fand es eben chic, ein Pferdchen laufen zu haben, das nach seiner Pfeife tanzte. Natürlich hatte er nie mit seinem Vater darüber gesprochen. Kein Mensch wusste davon. Aber so war es gewesen! Er hatte sie aufgehalten an dem Abend im August. Er hatte von ihr verlangt, dass sie mit zwei Männern gleichzeitig schlief.
Er hatte viel von ihr verlangt, zu viel. Und als Magdalena tot war, als sie ihn bitter nötig gebraucht hätte, wurde sie ihm lästig. Er suchte sich eine neue Freundin. Und weil sie nicht freiwillig ging, befahl er seinen Freunden, ihr einen Denkzettel zu verpassen. Er ließ sie zusammenschlagen und schaute zu. Seine neue Freundin auch.
Hätte ihr Anwalt zuhören können, er wäre stolz auf sie gewesen. Obwohl der Professor der Sachverständige war, konnte man ihn ebenso leicht belügen wie Mutter. In insgesamt drei Sitzungen nagelte sie ihn auf den Zuhälter fest, erging sich in Details, schmückte hier und dort etwas aus, präsentierte alle Scheußlichkeiten, die sich ein Hirn nur ausdenken konnte. Die kleinen Teufel mit den rotglühenden Zangen ergaben eine gute Vorlage für perverse Freier.
Wenn der Professor genug gehört hatte, ließ er sie zurückbringen in den Raum. Und dort war sie eine Verrückte, durfte sich gehen lassen und tat das auch. Wenn kein Mensch in ihrer Nähe war, kam es nicht darauf an, wo sie sich aufhieltoder ob sie selbst noch vorhanden war. Es waren genug andere da. Mutter und Vater, Magdalena und Johnny, Böcki und Tiger, Frankie und ein Arzt und die Angst und die Scham und die Schuld.
Ab und zu kamen auch Leute vom Pflegepersonal. Da sie jedoch durch die Tür hereinkamen, wusste sie genau, wie sie sich verhalten musste. Sie sprach ganz normal mit ihnen, beschränkte sich dabei auf Allgemeinplätze, um keinen Fehler zu machen. Sie sagte zum Beispiel: «Was bietet uns die Küche denn heute? Das duftet ja wieder!» Dann betrachtete sie die Pampe und sagte: «Ich wünsche mir nur, ich hätte einen besseren Appetit. Aber ich habe noch nie viel gegessen.»
Manchmal fragte sie auch: «Meinen Sie, ich könnte mal einen richtig guten Kaffee bekommen? Ich bin immer so müde. Ein Kaffee täte mir bestimmt gut.»
So müde, wie sie sich gab, war sie gar nicht, weil sie nur noch am Abend die verordneten Medikamente schluckte. Danach schlief sie auf der Stelle ein und musste sich nicht mit den anderen Frauen auseinander setzen. Es hätte eine fragen können, warum sie hier sei. Aber was morgens auf dem Tablett lag, ließ sie verschwinden. Die Leute vom Pflegepersonal waren nachlässig, und sie selbst war sehr überzeugend.
Und ohne Medikamente hatte sie die Situation besser unter Kontrolle, konnte Vater um Verzeihung bitten, Mutter vom Auge Gottes in freier Natur vorschwärmen, Magdalena von leidenschaftlichen Freunden und dem Flug nach Amerika erzählen. Nur mit Frankie und den anderen jungen Männern sprach sie kein Wort. Wenn Frankie sie anschaute mit seinem Vergebung spiegelnden Blick, schnürte er ihr die Kehle zu. Er musste gewusst haben, dass er als Opferlamm geboren war, um ihre Sünden zu tilgen mit seinem Blut. Wie sonst sollte man sich seinen Blick erklären?
Vielleicht war es am Ende doch nicht so verrückt gewesen, was Mutter gepredigt hatte. Wenn er vor zweitausend Jahrenin den Himmel aufgestiegen war, wer oder was hätte ihn daran hindern sollen zurückzukommen, um noch einmal zu helfen, zu erlösen? Um sie ein paar Minuten absoluter Freiheit spüren zu lassen. Vielleicht war er nur aus einem einzigen Grund mit dieser weißblonden Frau an den See gekommen, um ihr vor Augen zu führen, dass Magdalena ein Biest gewesen war. Und vielleicht wollte er, dass sie kämpfte, nicht um ihre äußere Freiheit, nur um die innere, um das Gefühl, von ihm erlöst worden zu sein.
Sie hätte diesen Aspekt gerne mit ihrem Anwalt besprochen. Aber ihn sah sie vorerst nicht wieder. Nur der Chef kam noch einmal und wollte mit ihr über die Irrelevanz reden. Sie schüttelte den Kopf, damit gab er sich zufrieden. Er war auch nicht als Polizist gekommen, nur als Besucher.
Und wie ein Besucher am Krankenbett brachte er ihr etwas mit. Eine Zeitschrift, eine
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