Die Sünderin
unbeteiligten Ausdruck wie zu Beginn. «Der Chef», murmelte sie und erklärte etwas lauter. «Er heißt Rudolf Grovian. Ein hartnäckiger Hund, sage ich Ihnen. Er hat mir erzählt, er hätte das Mädchen mit den gebrochenen Rippen gefunden.»
Ihr Blick fand zu ihm zurück, und ihre Augen bestanden wieder aus purem Glas. «Furchtbar, nicht wahr?» Sie nickte schwer. «Aber da kann man nichts machen. Er tut nur seine Arbeit. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, mich über ihn zu beschweren. Das will ich ja auch gar nicht. Aber jetzt hat er so viel zusammen, da könnte er doch Ruhe geben. Und das wird er nicht tun. Er wird nicht eher aufhören, bis er mich fix und fertig gemacht hat. Ich geh kaputt hier drin.»
Ihre Stimme verursachte ihm einen Kälteschauer. Der letzte Satz war nur noch ein heiseres Flüstern. Sie schlug sich mit einer Faust gegen die Brust. Sekundenlang kniff sie wie unter Schmerzen die Augen zusammen. Dann fing sie sich wieder.
«Ich könnte ihm den Hals umdrehen. Aber irgendwie magich ihn. Der Erlöser hat ja immer gesagt: Liebet eure Feinde. Der Chef war mein erster Feind. Und ich habe mich so stark gefühlt am Anfang. Da lag dieser Mann und blutete und war tot, und mir ging es prächtig. Wie Goliath habe ich mich gefühlt. Ich war Goliath. Ich war so groß, dass ich das Messer auf dem hohen Tisch sehen und greifen konnte. Und dann kam dieser kleine David und sagte, dass er mit meinem Vater reden muss. Ich habe die Nerven verloren und drauflos gelogen. Und das Komische war, je mehr ich erzählte, umso mehr sah ich. Das Klecksebild und die grünen Steine im Fußboden und den Dicken mit dem Mädchen auf der Treppe. Und jetzt sehe ich die drei Kreuze. Ich weiß, dass ich einen unschuldigen Mann getötet habe. Und ich habe Angst. Ich habe entsetzliche Angst vor dem Zorn seines Vaters.»
Eberhard Brauning konnte sich nicht überwinden zu tun, was er sich vorgenommen hatte, sie auf den Punkt bringen. Er wünschte sich, Helene wäre in der Nähe, um ihr Urteil abzugeben und ihm zu sagen, wie er sich verhalten sollte.
Cora Bender presste die Lippen aufeinander, fuhr mit beiden Händen zum Gesicht und bedeckte es sekundenlang. Dabei flüsterte sie: «Manchmal nachts, wenn ich denke, ich schlafe, tritt er an mein Bett. Ich sehe ihn nicht, ich fühle ihn nur. Er beugt sich über mich und sagt: ‹Mein Sohn hatte keine Schuld an diesem Desaster. Er hat getan, was er tun konnte.› Jedes Mal, wenn er das sagt, will ich schreien: ‹Du lügst!› Aber ich kann nicht. Ich kann den Mund nicht aufmachen. Ich schlafe doch.»
Nach einer Ewigkeit nahm sie ihre Hände herunter, und ihr Gesicht war so, wie er sich als Kind das Gesicht eines Geistesgestörten vorgestellt hatte.
«Machen Sie sich keine Sorgen», murmelte sie erschöpft. «Ich weiß, wie das alles klingt. Aber ich weiß auch, wem ich es sagen darf und wem nicht. Beim Professor kommt kein Wort über den Erlöser und die büßende Magdalena auf denTisch. Zu Anfang wollte ich wirklich nichts mit ihr zu tun haben. Aber dann wusch sie ihm die Füße, und alles veränderte sich. Kennen Sie sich in der Bibel aus?»
Der Blick, der diese Frage begleitete, war kritisch und nüchtern. Als ob eine Expertin einem Laien etwas begreiflich zu machen versuchte. Er zog wieder unwillkürlich die Schultern zusammen. «Ein wenig», sagte er.
«Wenn Sie Fragen dazu haben», fuhr sie fort, «fragen Sie mich nur. Ich kenne jedes Wort. Ich kenne sogar die Stücke, die nie geschrieben wurden. Als sie ihm die Füße wusch, wollte sie sich nur bei mir einschmeicheln. Ihn wollte sie vernichten, und das hat sie geschafft. Ich habe es getan. Und ich weiß nicht, warum. Ich weiß es wirklich nicht. Das Lied allein kann nicht der Grund gewesen sein.»
Sie begann mit den Fingerspitzen einen Rhythmus auf die Tischplatte zu trommeln. «Es war sein Lied. Und ich hatte es im Kopf. Wie ist es da reingekommen? Ich muss ihn doch gekannt haben, meinen Sie nicht? Warum kann ich mich dann nicht an ihn erinnern? Meinen Sie, er könnte wirklich einer von den Freiern gewesen sein? An die kann ich mich ja auch nicht erinnern. Alles, was nach ihrem Tod passiert ist, ist weg. Ich habe es so tief vergraben, dass ich nicht mehr rankomme. Ich habe mir schon das ganze Hirn danach umgebuddelt und nichts gefunden. Vielleicht lag es hier hinten.»
Sie tippte mit einem Finger gegen ihre von Haaren bedeckte Stirn. «Und dann kann ich bis an mein Lebensende graben, ohne etwas zu finden. Auf die Stelle
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