Die Sünderin
ich eine kranke Schwester hatte. Ja, sie lebte noch. Die Ärzte wunderten sich alle paar Monate aufs Neue, aber das kümmerte Magdalena nicht. Ich dachte oft, das sei ihre Rache an mir. Ich hatte ihr in Mutters Bauch die Kraft weggefressen, dafür lebte sie jetzt eisern weiter, und die halbe Zeit gab es nichts zu essen.
Es gab auch keine Freundinnen. Nicht einmal Kerstin und Melanie Adigar wollten auf dem Schulhof etwas mit mir zu tun haben. Sie hatten Angst, ebenfalls ausgelacht zu werden. In der großen Pause stand ich abseits, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Die anderen spielten und tobten. Ich musste innere Einkehr halten, den Erlöser um Verzeihung und Kraft für mich und um Gnade und den nächsten Tag für Magdalena bitten.
Seit ich zur Schule ging, war es schlimmer geworden mit ihr. Ich brachte häufig etwas mit, Husten, Schnupfen oder Halsweh. Sie steckte sich regelmäßig an, obwohl ich nicht in ihre Nähe kam. Und wenn ich nur einmal geniest hatte, Magdalena traf es wie ein Hammerschlag.
Mutter schob die sich häufenden Krankheiten der Tatsache zu, dass ich nicht mehr so viel Zeit zum Beten hatte. Der Vormittag fiel ja weg. Da musste ich wenigstens in der großen Pause meine Pflicht tun. Das tat ich auch. Die Erkenntnis, dass Magdalena wirklich und wahrhaftig meine Schwester war, hatte mich irgendwie gelähmt. Es hieß doch, dass ich, so lange sie lebte, ebenso gezeichnet und abgestempelt war wie sie.
Ich wünschte ihr nicht den Tod – wirklich nicht. Aber ich wollte auch Freundinnen haben, die auf dem Schulhof mit mir spielten und am Nachmittag zu mir kamen. Ich wolltesonntags spazieren gehen und mit meinen Eltern in der Eisdiele sitzen. Mit einer Mutter, die Zeit genug gehabt hatte, sich vorher zu waschen, zu frisieren und ein hübsches Kleid anzuziehen. Dass sie sich mal die Nägel lackierte oder die Lippen nachzog wie Grit Adigar, hätte ich ja gar nicht von ihr verlangt.
Ich wollte einen Vater haben, der lachen konnte. Der mir nicht immer nur von früher erzählte, von Dingen, die längst tot und vermodert waren. Der nicht nachts ins Bad schleichen musste, um mit seiner Sünde zu kämpfen. Der einmal von morgen sprach oder vom nächsten Wochenende. Der einmal, nur ein einziges Mal sagte: «Wir könnten den Hamburger Dom besuchen! Zuckerwatte essen und Riesenrad fahren.»
Ich wollte Einkäufe machen mit Mutter. Ich wollte, dass sie mich im Laden fragte, ob ich eine Tafel Schokolade oder lieber einen Beutel Kartoffelchips haben möchte. Ich wollte nicht immer nur hören, dass ich ein schlechter und gieriger Mensch sei.
Das Kind, das die ganze Kraft aus ihrem Bauch für sich allein genommen hatte. Verdammt nochmal! Ich hatte es nicht mit Absicht getan. Ich hatte doch nicht ahnen können, dass nach mir noch eine käme, die auch Kraft brauchte.
Manchmal versuchte ich, Mutter das Geständnis abzulocken, dass sie es ein bisschen übertrieben darstellte. Ich fing solche Gespräche sehr geschickt an. Es war trotzdem eine sinnlose Sache. Wenn ich Mutter erklärte, dass ich meine Schlechtigkeit eingesehen hätte und dagegen ankämpfte, schaute sie mich nur an, als wolle sie sagen: «Es wurde aber auch höchste Zeit.»
Wenn ich ihr sagte, dass die Kinder in der Schule über mich lachten, sagte sie: «Der Erlöser ist auch verspottet worden. Sogar noch, als er sterbend am Kreuz hing. Und er richtete seine Augen zum Himmel und sagte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Was lernst du daraus?»
Wie ich diesen Satz hasste!
Es war nicht ratsam, Mutter auch nur den kleinsten Einblick in das zu geben, was ich tatsächlich lernte. Lesen, schreiben, rechnen und lügen. Mich bei der Lehrerin einschmeicheln, damit sie einschritt, wenn die anderen zu laut über mich lachten und dabei noch mit den Fingern auf mich zeigten. Meine Schwester zu hassen, das vor allem lernte ich.
Ich hasste Magdalena damals wirklich und so inbrünstig, wie man es nur als Kind kann. Wenn ich sie in der Küche liegen sah, ihr Quietschen und Stöhnen hörte, hoffte ich immer, dass ihr alles wehtat, was überhaupt wehtun kann.
Das änderte sich erst nach diesem Tag im Mai. Es war im Jahr nach meiner Einschulung. Für mich war es ein normaler Tag. Niemand sagte morgens etwas Besonderes. Mit Ausnahme der Lehrerin, die mir in der Pause die Hand drückte und mich anlächelte. «Nun bist du auch schon sieben Jahre alt, Cora.»
Ich kam mittags um die übliche Zeit heim. Mutter öffnete mir und schickte mich gleich ins
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