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Die Sünderin

Die Sünderin

Titel: Die Sünderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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hergekommen ist.»
    Und Gereons Mutter sagte: «Du solltest dich von ihr scheiden lassen. Das musst du tun, schon wegen der Leute. Dass sie nicht denken, wir wollten mit so einer was zu tun haben.»
    Und Gereon nickte. Er nickte zu allem, was seine Eltern vorschlugen. Und wenn ihm nicht anschließend jemand erklärte, es sei Unsinn, tat er es auch.
    Es war niemand mehr da, der ihm etwas erklärte. Aber er fand bestimmt rasch eine andere. Er war ein gut aussehender, junger, gesunder Mann. Er hatte ein Haus. Er verdiente nichtschlecht, dafür hatte sie noch gesorgt. Und eines Tages sollte er den Betrieb übernehmen, Chef sein in der eigenen Firma. Er konnte einer Frau etwas bieten, nicht nur finanziell.
    Er trank nicht. Er prügelte nicht, er ging jeder Auseinandersetzung aus dem Weg. Er hatte Zärtlichkeit, doch, die hatte er. Sie hätte noch jahre- und jahrzehntelang mit ihm schlafen können, wenn er am Heiligabend nicht versucht hätte, sie auf diese Weise zu küssen. Wahrscheinlich konnte er jede andere Frau damit glücklich machen.
    Ihm war eine zu gönnen, die ihn lieben konnte, wie er es verdient hatte. Die es genoss, mit ihm im Bett zu liegen. Die dem Moment entgegenfieberte, wo er an ihr herunterrutschte, die das auch für ihn tat. Es tat weh, sich das vorzustellen, aber sie wünschte ihm von ganzem Herzen, dass er recht bald so eine Frau fand. Er war ein Spießer auf seine Art. Aber er war ein ganz normaler Mann. Und sie   … war auch normal. Völlig normal! Das war sie von Kind an gewesen. Grit Adigar hatte es damals gesagt.
     
    Das war das Schlimmste, was ich als Kind begreifen musste: Bei uns war keiner normal. Ich weiß nicht mehr genau, ab wann ich wusste, dass ich dazugehörte und dass sich für mich nie etwas ändern würde. Ich weiß auch nicht mehr, ob es einen besonderen Anlass gab oder ob das Begreifen ein allmählicher Prozess war. Irgendwann wusste ich eben, dass dieses scheußliche Weib meine leibliche Mutter war. Wenn ich mich mit ihr in der Stadt hätte zeigen müssen, ich hätte sie verleugnet wie Petrus den Erlöser. Aber das änderte nichts an den Tatsachen, überhaupt nichts an diesem elenden Leben.
    Vater bemühte sich, es für mich ein bisschen erträglicher zu machen. Aber was konnte er schon tun? Da war der Tag, an dem ich eingeschult wurde. Vater hatte mir in Hamburg einen Ranzen gekauft und ein blaues Kleid. Es war ein hübschesKleid mit kleinen weißen Knöpfen auf der Brust, einem weißen Kragen und einem Gürtel zum Binden.
    Ich musste es – weil Eitelkeit auch eine Sünde ist – am nächsten Tag vor dem Altar im Wohnzimmer verbrennen. In einem Blecheimer. Mutter stand mit einer gefüllten Wasserkanne daneben, damit uns nicht das Haus in Flammen aufging.
    Vater schüttelte den Kopf, als ich es ihm abends erzählte. Er erklärte mir, dass Mutter katholisch sei und dass es da ein bisschen strenger wäre. Und später, als wir im Bett lagen, erzählte er mir von der ersten Schule in Buchholz.
    Sie war 1654 erbaut worden, erzählte er. Und sie hatte nur zwei Stuben gehabt. Die Schulstube war auch die Wohnstube der Lehrersfamilie gewesen. Und die Leute schickten ihre Kinder nicht hin, weil sie sie für die Arbeit auf dem Hof brauchten. Weil sie selbst nicht lesen und schreiben konnten und es deshalb nicht für so wichtig hielten. Dass aber heute jeder wüsste, wie wichtig es sei, lesen und schreiben zu können, erklärte Vater. Und dass in der Schule jeder in seinen eigenen Händen hielte, was aus ihm wurde.
    Das war seine Art, mir zu sagen: «Tu für dich, was du kannst, Cora. Ich kann dir leider nicht helfen.»
    Er sagte, es sei nicht wichtig, was man anziehe, es zähle nur, was man im Kopf habe. Die Kinder früher seien in Lumpen gegangen und hätten keine Schuhe gehabt. Na ja, Schuhe hatte ich. Und Lumpen musste ich auch nicht anziehen an meinem ersten Schultag. Ich kam mir trotzdem vor wie aus einem Mülleimer gestiegen unter all den herausgeputzten Mädchen.
    Den neuen Ranzen auf dem Rücken wie die anderen auch. Aber in einem alten sackartigen Kleid, das Mutter eigens zur Buße aus dem Schrank gekramt hatte, obwohl es mir zu eng war. Ich roch nach Mottenkugeln und kam mit leeren Händen. Alle anderen hielten mit Süßigkeiten gefüllte Tüten im Arm.
    Zum Glück hatte Mutter keine Zeit, mich auf meinem ersten Schulweg zu begleiten. Sie wussten es trotzdem alle. Man glaubt nicht, wie schnell sich so etwas herumspricht.
    Ich war vom ersten Schultag an die Außenseiterin, weil

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