Die Sünderin
Wohnzimmer. Eine Mahlzeit gab es nicht, kein Topf auf dem Herd, auch kein Brot auf dem Tisch. Das Brot lag oben im Küchenschrank hinter einer verschlossenen Tür. Den Schlüssel trug Mutter immer bei sich nach dem Motto: «Und führe uns nicht in Versuchung!»
Mutter ging wieder hinauf sich um Magdalena kümmern. Anfang April hatte ich ihr einen Schnupfen aus der Schule mitgebracht, von dem sie sich nicht erholte. Ihre Nase blutete häufig, ohne dass sie sie geputzt oder sich gestoßen hätte. Auch wenn Mutter ihr die Zähne putzte, spuckte sie Blut. Sie musste sich oft übergeben, dabei aß sie kaum etwas. Überall an ihrem Körper waren blaue und rote Flecken. Die Haare fielen ihr aus. Sie hatte ständig Durchfall. Mutter wagte es nicht, mit ihr nach Eppendorf zu fahren, aus Furcht, Magdalena müsse noch einmal operiert werden. Jeden Abend, wenn wir am Tisch saßen, hieß es: «Beten wir für morgen.»
Am späten Nachmittag kam Vater heim. Da hockte ich immer noch mit knurrendem Magen unter einem Strauß frischer Rosen. Sie waren so lang, dass sie das Kreuz um etliches überragten. Wegen der Rosen hatten wir sonntags nur eine Suppe mit grünen Bohnen gegessen, kein noch so winziges Stückchen Wurst darin. Vater kam durch die Küche herein und rief leise nach mir. Ich ging zu ihm und sah, dass er etwas in der Hand hielt.
Eine Tafel Schokolade! Schon als ich sie sah, bäumte sich mein Magen auf. Vater küsste mich und flüsterte: «Die schenke ich dir zu deinem Geburtstag.»
Ich wusste von anderen Kindern aus der Klasse, was ein Geburtstag ist. Und wenn Grits Töchter Geburtstag hatten, gab es nebenan ein Riesenfest mit Negerküssen, Kartoffelchips und Eis. Dass ich auch einen Geburtstag haben könnte, darüber war bis dahin nie gesprochen worden.
Vater erklärte, jeder Mensch hätte so einen Tag und fast alle feierten ihn. Dass sie sich Freunde einluden, Kuchen aßen und Geschenke bekamen. Während er sprach, ließ er die Tür zum Flur nicht aus den Augen. Über uns hörten wir Mutter rumoren. Sie hatte kurz zuvor versucht, Magdalena ein paar Löffel Hühnerbrühe einzuflößen. Nach dem dritten Löffel hatte Magdalena sich erbrochen. Mutter musste das Bett frisch beziehen. Danach hatte sie Magdalena ins Bad getragen, um sie zu waschen.
Dann kam Mutter in die Küche. Wir hatten sie nicht gehört auf der Treppe. Ich hatte mir gerade den ersten Riegel Schokolade in den Mund geschoben. Sie kam zur Tür herein. Nach zwei Schritten erstarrte sie. Ihr Blick ging zwischen meiner Hand und meinem Mund hin und her, ehe sie sich Vater zuwandte.
«Wie kannst du so etwas tun?», fragte sie. «Während die eine nicht den kleinsten Bissen im Leib behält, fütterst du die andere mit Süßigkeiten.»
Vater senkte den Kopf und murmelte: «Sie hat doch Geburtstag, Elsbeth. Andere Kinder werden mit Geschenken überhäuft, da kommt die Verwandtschaft, jeder bringt etwas mit. Sieh nur, wie es nebenan ist. Grit holt die ganze Straße zusammen. Und hier …»
Weiter kam er nicht. Mutter wurde nicht laut, das wurde sie nie. «Hier», unterbrach sie ihn sanft, «zählt nur ein Geburtstag, der unseres Erlösers. Und an ihn werden wir uns jetzt wenden, ihn bitten, dass er uns Kraft gibt, den vielen Versuchungen zu widerstehen. Wenn wir nicht alle reinen Herzens sind, wie soll er denn Erbarmen haben?»
Dann streckte sie die Hand aus und verlangte von mir: «Gib das her und zünde die Kerzen an.»
Und dann hockten wir zu dritt auf dem Bänkchen, fast eine Stunde lang. Anschließend schickte Mutter mich ins Bett. Sie fragte, ob ich bereit sei, auf das Abendessen zu verzichten. Ich dürfe nicht einfach nur ja sagen. Ich müsse wirklich bereit sein, ein Opfer zu bringen.
Ich hatte entsetzlichen Hunger, aber ich nickte, ging hinauf und legte mich ins Bett, ohne die Zähne zu putzen. Mir war übel, ich hatte Bauchweh und wünschte mir, auch einmal richtig krank zu werden. Oder zu sterben, vielleicht zu verhungern.
Einschlafen konnte ich nicht. Ich lag noch wach, als Vater ins Zimmer kam. Das muss so gegen neun gewesen sein. Er ging immer um neun ins Bett, wenn er früh von der Arbeit gekommen war, auch im Sommer, wenn es draußen noch hell war. Was hätte er sonst tun sollen? Andere Leute schauten sich abends einen Film im Fernsehen an. Oder sie hörten eine Sendung im Radio, lasen in einer Zeitung oder einem Buch.
So etwas gab es bei uns nicht. Außer den Büchern, Mutters Bibeln. Sie hatte mehrere. Ein Altes Testament und ein
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