Die Sünderin
Neues Testament und ein Testament für Kinder. Da warenauch Bilder drin und nur die schönen Geschichten von den Wundern, die der Erlöser getan hatte.
Aus dem Buch las Mutter Magdalena oft vor. Dann zeigte sie ihr die Bilder und erzählte ihr, dass sie eines Tages als reiner Engel auf einem kleinen Bänkchen vor dem Thron Seines Vaters sitzen und mit den anderen Engeln jubilieren dürfe. In den Wochen damals nicht. Magdalena war zu schwach, um ihr zuzuhören. Mutter versuchte es zwar, doch wenn sie zu erzählen oder zu lesen anfing, drehte Magdalena den Kopf zur Seite.
Als Vater die Tür hinter sich schloss, hörte ich ihn murmeln: «Das haben wir bald überstanden. Und dann hört der Zirkus auf, oder ich geb ihr einen Tritt in den Hintern.» Er schlug sich mit einer Faust in die Hand, hatte noch nicht bemerkt, dass ich nicht schlief.
Sein Name war Rudolf Grovian. Manche sprachen ihn absichtlich falsch aus, dann klang es nach Brutalität. Aber er war kein gewalttätiger Mann, im Gegenteil; im privaten Bereich hätte er von Zeit zu Zeit härter durchgreifen müssen, das wusste er. Er war zweiundfünfzig Jahre alt, seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet, seit fünfundzwanzig Jahren Vater.
Seine Tochter war immer ein aufsässiges Geschöpf gewesen, das unverschämte Forderungen stellte und den Eltern auf der Nase herumtanzte. Es war seine Schuld. Er hätte die Erziehung nicht allein seiner Frau überlassen dürfen. Mechthild war zu nachgiebig und zu gutgläubig. Sie schaffte es nicht, Grenzen zu ziehen, nahm jeden Unsinn, der ihr aufgetischt wurde, für bare Münze. Wenn er früher etwas gesagt hatte, hieß es nur: «Rudi, lass sie doch, sie ist noch so klein.»
Später war sie größer und ließ sich nichts mehr sagen, von ihm bestimmt nicht. Und Mechthild legte sich den Standardsatz zu: «Reg dich nicht auf, Rudi, denk an deine Galle. So sind sie in dem Alter.»
Seit drei Jahren war seine Tochter nun verheiratet und tanzte einem tüchtigen, netten jungen Mann auf der Nase herum. Vor zwei Jahren hatte sie einen Sohn bekommen. Und Rudolf Grovian hatte gehofft, dass sie zur Vernunft käme, ihre Verantwortung begriff und ihre Ansprüche zurückschraubte.
Ausgerechnet an dem Samstag hatte er schmerzlich einsehen müssen, dass manche Hoffnungen die Zeit nicht lohnten, die man darauf verwendete. Er hatte den Nachmittag bei der Geburtstagsfeier seiner Schwägerin verbracht. Tochter, Schwiegersohn und Enkel waren selbstverständlich auch eingeladen gewesen. Tochter und Enkel tauchten auf, sein Schwiegersohn ließ sich nicht blicken.
Rudolf Grovian schnappte ein paar Fetzen aus der Unterhaltung zwischen Frau und Tochter auf, die Anlass zu schlimmsten Befürchtungen gaben. «Anwalt», das Wort hörte er mehrfach. Und sich einzureden, es ginge eventuell um eine Verkehrssache oder eine Mietstreitigkeit, so naiv war er nicht.
Er nahm sich vor, im Laufe des Abends ein ernstes Wort mit seiner Tochter zu reden, obwohl er wusste, dass es zwecklos war und ihm danach nur die Galle überlief. Und bevor es dazu kam, wurde er weggeholt. Das brachte der Beruf hin und wieder mit sich.
Rudolf Grovian war Hauptkommissar bei der Polizeibehörde im Erftkreis, Leiter des Ersten Kommissariats. Er hätte – dem Alter und den Parallelen nach – Cora Benders Vater sein können. Stattdessen war er der Chef, der sie mit seinen Fragen nicht vorwärts, sondern zurückschob. Langsam, aber stetig immer weiter zurück, mitten hinein in den Wahnsinn, den sie mehr fürchtete als den Tod.
Es war ein unheilvolles Aufeinandertreffen für beide Seiten: Der Polizist, der im Privatleben ein oft gereizter und manchmal schuldbewusster Vater war, und die Frau, die mitdem Wissen lebte, dass Väter nicht helfen konnten, dass alles nur schlimmer wurde, wenn sie es versuchten.
Möglich, dass Rudolf Grovian an diesem Samstag ein wenig gereizter war als sonst. Trotzdem tat er seine Arbeit, wie er es gewohnt war – neutral und distanziert.
Als er über das Geschehen am Otto-Maigler-See benachrichtigt wurde, fuhr er zur Dienststelle, trommelte alle erreichbaren Kollegen für die Vernehmungen zusammen, auch die, die sich sonst nicht mit Kapitaldelikten befassten.
Es ging trotz des Wochenendes zügig voran. Das ganze Völkchen wurde auf die umliegenden Räume verteilt. Er sprach mit jedem, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Die Leute gaben sich alle erdenkliche Mühe, auch die kleinste Kleinigkeit zu erwähnen.
Doch alles bezog sich auf das
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