Die Sünderin
erlebt.
Wie ein Granitblock saß sie ihm gegenüber. Das Herzklopfen sah er nicht. Und die grauroten Schwaden im Hirn trieben ihr auch nicht zu den Ohren hinaus. Seine letzte Frage hatte sie noch nicht beantwortet. Es sah aus, als wolle sie ihre Drohung wahr machen. «Ich sage nichts mehr.» Er wartete darauf, dass ihre Miene sich den Worten anpasste und sich verschloss. Aber es kam anders.
Das zerschlagene Gesicht entspannte sich plötzlich. Der Blick richtete sich nach innen, die Hände im Schoß lockerten den eisernen Griff und lagen wie vergessen auf den Oberschenkeln. Ein paar Minuten lang war sie nur nett und adrett in ihrem Jeansrock, dem weißen T-Shirt und den Sandalen an den nackten Füßen. Die junge Frau von nebenan, der man ohne Bedenken die eigenen Kinder für ein paar Stunden anvertraut. Die Seele im Familienbetrieb des Schwiegervaters, müde und erschöpft nach einem anstrengenden Tag.
Er betrachtete sie unschlüssig und rief sie zweimal beim Namen. Sie reagierte nicht. Für einen Moment spürte er Unbehagen wie einen Kälteschauer über den Rücken ziehen. Die Schlagspuren in ihrem Gesicht waren ihm nicht geheuer. Dass sie – entgegen ihren wiederholten Behauptungen – nicht völlig in Ordnung war, stand außer Frage. Nur bezog er das mehr auf ihre körperliche als auf ihre seelische Verfassung. Dass sie ihren Verstand nur noch auf einem schmalen Grat balancierte, war für ihn nicht zu erkennen. Aber mehrere heftige Fausthiebe gegen den Kopf …
Winfried Meilhofer hatte gesagt: «Ich dachte, er schlägt sietot.» Es war nicht auszuschließen, dass sie eine innere Verletzung erlitten hatte, die sich erst nach Stunden bemerkbar machte. Man hörte so etwas gelegentlich nach Schlägereien. Wenn sie ihm hier zusammenbrach …
Er hätte sich nicht auf das verlassen dürfen, was sie sagte. Sie brauchte doch einen Arzt. Wahrscheinlich brauchte sie auch einen, der ihr bezüglich der von ihm vermuteten Selbstmordabsicht auf den Zahn fühlte.
Es war normalerweise nicht seine Art, Verantwortung abzuschieben, aber plötzlich wünschte er, der Staatsanwalt wäre gekommen und hätte entschieden. Weitermachen? Oder zum Haftrichter? Oder besser ins nächste Krankenhaus, den Kopf röntgen lassen, damit einem später keine Versäumnisse angekreidet werden konnten?
Der Staatsanwalt war gerade mit einer anderen Sache beschäftigt. In einer Kölner Kneipe hatten sie einen geschnappt, der im Verdacht stand, vor ein paar Wochen seiner Freundin den Schädel gespalten zu haben. Rudolf Grovian war am Telefon leicht unwillig abgefertigt worden. «Ich bin mitten in einer Vernehmung. Ich komme morgen früh und hole mir die Unterlagen. Wenn Sie mit der Frau fertig sind, schaffen Sie sie zum Haftrichter nach Brühl. Es ist doch alles so weit klar, oder?»
Klar war überhaupt nichts, solange sie behauptete, ihr Opfer nicht gekannt zu haben. Aber für den Haftrichter genügten die Zeugenaussagen. Um den Rest konnte sich der psychologische Sachverständige kümmern. Es wurde garantiert einer eingeschaltet. Sollte der sich die Zähne an ihr ausbeißen.
Etwas in Rudolf Grovian war der Meinung, er solle zusehen, sie sich so rasch wie möglich vom Hals zu schaffen. Sie hatte etwas an sich, was ihn wütend machte und – auch wenn er sich das niemals eingestanden hätte – verunsicherte. Je länger er schwieg, umso deutlicher fühlte er ihn, den ersten leisen Zweifel. Was nun, wenn sie die Wahrheit sagte?
Blödsinn! Das gab es nicht, dass eine unbescholtene Ehefrau und Mutter aus nichtigem Anlass auf einen ihr völlig Fremden einstach.
Sie spielte mit ihrem Ehering. Unter ihren Fingernägeln waren noch Reste von Blut zu erkennen. Sie begann daran zu zupfen. Ihre Hände fingen erneut zu zittern an. Sie hob den Kopf und schaute ihm ins Gesicht. Ein Blick wie ein Kind, ratlos und verloren. «Hatten Sie mich etwas gefragt?»
«Ja, hatte ich», sagte er. «Aber anscheinend können Sie sich nicht mehr konzentrieren. Ich denke, wir machen Schluss für heute, Frau Bender. Wir reden morgen weiter.»
Das war die beste Lösung. Vielleicht war sie nach einer Nacht in der Zelle zugänglicher. Vielleicht nutzte sie die Zeit auch, um ihre ursprüngliche Absicht erneut in Angriff zu nehmen. Schwimmen gehen! Da gab es ja auch noch andere Methoden. Er musste die Kollegen instruieren, dass sie nicht eine Sekunde ohne Aufsicht war. Und beim geringsten Anzeichen war die Sache für ihn ohnehin erledigt. So wie damals, als seine Tochter
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