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Die Sünderin

Die Sünderin

Titel: Die Sünderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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gesund. Magdalena durfte die Puppe sofort auspacken. Ich half ihr dabei.
    Währenddessen warf Vater ein winziges Päckchen zu Mutter hinüber und sagte: «Geh am besten mal ins Wohnzimmer. Zeig es ihm und frag, ob er etwas dagegen einzuwenden hat.» Mutter rührte sich nicht von der Stelle. Das kleine Päckchen prallte von ihrem Kittel ab und fiel zu Boden. Zuletzt überreichte Vater mir mein Geschenk. Es war ein Buch: «Alice im Wunderland».
    Mehr als den Titel habe ich nicht lesen können. An dem Abend war es schon zu spät, und am nächsten Tag verlangte Mutter, dass ich es im Blecheimer vor dem Altar verbrannte. Sie verlangte es nicht so, wie man einen Befehl gibt. Sie hielt mir eine Predigt über Margrets Brief und die verdorbenen Gedanken darin. Dass ich ihr sofort sagen müsste, wenn Vater sich mir zu erkennen gäbe.
    Ich dachte, jetzt ist sie völlig übergeschnappt. Ich kannte Vater doch schon so lange. Und dass er mein richtiger Vater war, wusste ich inzwischen auch ganz genau. Ich sah ihm sehrähnlich und glaubte schon lange nicht mehr, dass die Adigars meine Familie wären. Ich nickte nur zu allem.
    Ich nickte auch, als sie mich fragte, ob ich nicht wie sie der Ansicht sei, dass es für ein erfülltes Leben vollkommen ausreiche, das Buch der Bücher zu kennen? Das kannte ich nun auswendig. Mutter hatte mir sämtliche Sündenfälle der Menschheit erzählt, bis sie mir an den Ohren wieder herausliefen. Und seit ich selbst lesen konnte, musste ich   … Ach, was soll’s!
    Sie schickte mich, den Blecheimer zu holen, drückte mir die Zündhölzer in die Hand, und dann schauten wir zu, wie sich das Wunderland in ein Häufchen Asche verwandelte.
    Als Vater am späten Nachmittag heimkam und davon erfuhr, wurde er so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Er sagte Dinge, von denen ich damals nur die Hälfte verstand. Dass er nie damit gerechnet hätte, die Hure eines Besatzungssoldaten könnte sich eines Tages in ein Gebetbuch verwandeln. Es hätte ihr doch auch einmal geschmeckt. Und sie hätte sich nicht nur das reinschieben lassen, was von der Natur dafür vorgesehen wäre, sondern auch mit Freuden die Nadel. Mutter stand da, als sei ihr das Gesicht eingefroren. Irgendwie tat sie mir Leid.
    Danach saßen wir noch lange am Küchentisch, Vater und ich, während Mutter das Geschirr spülte. Vater erzählte mir die Geschichte von Alice im Wunderland. Dabei kannte er sie gar nicht. Er erfand für mich eine völlig andere von einem Mädchen, dessen Mutter verrückt war und die ganze Familie in den Wahnsinn treiben wollte. Dass es dem Mädchen daheim nicht gefiel, dass es aber nicht weglaufen konnte, weil es noch zu jung war und kein Geld hatte. Und da machte es sich seine eigene Welt. Es dachte sich Leute aus und unterhielt sich mit ihnen, obwohl sie nicht existierten.
    «Dann war das Mädchen aber genauso verrückt wie seine Mutter», sagte ich.
    Vater lächelte. «Ja, wahrscheinlich. Aber wie soll man auch nicht verrückt werden bei so einer Mutter? Wenn man nie etwas anderes sieht, nie etwas anderes hört.»
    Magdalena war auch in der Küche. Wie am Abend zuvor lag sie in den beiden Sesseln. Sie hatte einen harten Tag hinter sich; zwei Einläufe, die nichts weiter gebracht hatten als Bauchkrämpfe. Sie hatte aufmerksam zugehört und unentwegt zwischen Vater und Mutter hin- und hergeschaut. Sie kannte die Geschichte von Alice im Wunderland nämlich.
    Die Schwester, die in der Klinik dafür sorgte, dass sie manchmal mit anderen Kindern spielen durfte, hatte sie einmal in ein Zimmer gebracht, in dem eine andere Mutter ihrem Kind aus dem Buch vorlas. Später hat sie mir das erzählt. Aber wovon «Alice im Wunderland» tatsächlich handelte, hat sie mir nicht gesagt. Ich habe sie auch nicht gefragt, ich wollte es gar nicht wissen.
    Vater lächelte sie an und fragte: «Wie geht es unserem Spatz denn heute?»
    Magdalena antwortete ihm nicht. Sie sprach inzwischen oft mit mir und selten mit Mutter. Mit ihm sprach sie nie. Mutter tat das an ihrer Stelle. «Es geht ihr nicht gut. Wie sollte es auch in einem Haus, in dem sich niemand an die Gebote des Herrn hält?»
    «Du hältst dich doch daran», sagte Vater. Er war immer noch sehr verärgert. «Aber das Gebot musst du mir erst zeigen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gelesen zu haben, dass der Herr von einem Kind verlangt hätte, ein Buch zu verbrennen. Soweit ich weiß, waren es andere, die das veranlasst haben. Aber die nannten sich ja auch Herren. Von denen

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