Die Sünderin
Urlaub. Cora, tu mir einen Gefallen und sag den Leuten hier die Wahrheit. Mach dir keine Gedanken um andere. Denk jetzt mal an dich. Sag ihnen, was vor fünf Jahren passiert ist. Erzähl ihnen, warum du im August damals von daheim weggegangen bist. Sie werden das verstehen. Erzähl ihnen alles.»
«Habe ich schon», behauptete sie.
«Das glaube ich dir nicht», erklärte Margret Rosch.
Sie hob gleichmütig die Achseln. «Dann lass es! Lass mich in Ruhe. Stell dir vor, Mutter hätte Recht und ich wäre tot.»
Ein paar Sekunden lang war sie still. Dann bat sie leise: «Sprichst du mit Vater? Erfahren muss er das ja. Es ist mir lieber, wenn du es ihm sagst. Aber bring ihm das behutsam bei. Sag ihm, es geht mir gut. Ich will nicht, dass er sich aufregt. Er soll auch nicht herkommen. Ich will das nicht.»
Margret Rosch nickte nur und warf einen sehnsüchtigen Blick zur Tür. Rudolf Grovian begleitete sie hinaus, bedankte sich für ihr Erscheinen und die Hilfe, die sie ihm gewesen war. Es war ihm ernst damit. Johnny und Heroin, furchtbar misshandelt und aus einem fahrenden Auto auf die Straße geworfen, damit ließ sich etwas anfangen. Nicht zu vergessen die brechenden Rippen des zweiten Mädchens.
Auch der Dialog zwischen Tante und Nichte war aufschlussreich gewesen und hatte die Verdrängungsmechanismen der Familie offenbart. Reden wir zuerst mal übers Wetter.
Er war ziemlich sicher, dass Margret Rosch ihm noch ein bisschen mehr hätte erzählen können. Zumindest ein paar Worte über den Erlöser, die büßende Magdalena und den ganzen Quatsch. Es musste verwundern, dass Cora Bender nur daran gelegen schien, sich in diesen Punkten des Schweigens ihrer Tante zu versichern. Und das, obwohl sie selbst bereits ausführlich davon berichtet hatte.
In Gedanken korrigierte er sich. Nein, sie hatte nur über das Kreuz gesprochen. Deutlich erinnerte er sich an das Zucken in ihrem Gesicht, als sie den Erlöser im Zusammenhang mit der büßenden Magdalena erwähnte. Und wie sie mit dem Wasser für ihren Kaffee sofort ein Ablenkungsmanöver startete.
Er war nicht sonderlich bibelfest und fragte sich, welcheBedeutung einer biblischen Randfigur zukommen mochte, wenn Georg Frankenberg fünf Jahre nach seinem Auftreten als Satan mit der Schlange nun als Erlöser fungiert hatte. Aber es lohnte nicht, darüber zu grübeln.
Ein Trauma! Er hatte daran gerüttelt – unwissend und ahnungslos. Es umzurühren war wirklich nicht seine Aufgabe; nicht vor diesem Hintergrund. Dafür waren die Ärzte zuständig. Er machte einen Fehler immer nur einmal. Vor seinen Füßen würde sie nie wieder zusammenbrechen. Man musste wissen, wo die Grenze war. Er hatte die seine erreicht. Dachte er.
7. Kapitel
Margrets Besuche waren für mich immer eine zwiespältige Sache. Sie kam zu selten und blieb nicht lange genug, um wirklich etwas zu verändern. Sie brachte nur Hoffnung für Vater ins Haus und nahm sie wieder mit, wenn sie zurückfuhr.
An die Besuche aus den ersten Jahren erinnere ich mich kaum. Es können nicht viele gewesen sein. Und da kam Margret meist zusammen mit einer uralten Frau, meiner Großmutter. Sie brachten jedes Mal etwas Süßes mit. Mutter nahm es in Empfang, legte es in den Schrank zum Brot. Wo die Sachen von da aus hingerieten, wussten nur Mutter und der Erlöser. Vergünstigungen gab es nicht durch diese frühen Besuche. Deshalb empfand ich sie eher als Belästigung. Die Großmutter wollte ständig von mir wissen, ob ich artig sei, Vater und Mutter gehorche, immer brav täte, was sie von mir verlangten. Ich nickte zu allem und war erleichtert, wenn sie wieder abfuhren.
Dann kam Margret das erste Mal allein. Die Großmutter war gestorben. Bei dem Besuch unterhielt sie sich mit mir. Sie wollte wissen, ob mir die Schule Spaß mache. Ob ich gute Noten hätte. Welches Fach ich am liebsten mochte. Ob es mir gefiel, mit Vater in einem Zimmer zu schlafen. Und ob ich ihr vielleicht ein Bild von Vater zeichnen könnte, weil sie kein Foto von ihm hatte.
Ich konnte nicht gut zeichnen und malte ihr ein Männchen mit einer Harke und einem Eimer. Margret wollte wissen, was das lange Ding an der Seite des Männchens bedeutete. Ich erklärte es ihr. Das war es auch schon.
Die restliche Zeit war sie mit Mutter zusammen. Tagsüberjedenfalls, Vater musste ja arbeiten. Und Mutter war danach tagelang so komisch. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es kam mir vor, als hätte sie Angst. Richtig durcheinander war sie, hielt mir
Weitere Kostenlose Bücher