Die Sünderinnen (German Edition)
mit der Rechten an seinem breiten Kinn entlang.
»Eine schöne Kindheit zu haben ist nicht gerade selbstverständlich«, fuhr Sebastian fort, »aber das erleben Sie als Kriminalkommissar ja immer wieder.«
Meinen Beruf hat Jan Hendrik also auch erwähnt, dachte Pielkötter, und die gute Kinderstube, woran Marianne sicherlich weitaus mehr Anteil hatte als er selbst. Merkwürdigerweise erinnerte er sich jetzt daran, wie er seinem Sohn das Radfahren beigebracht hatte und wie sie zusammen einen Käfig für die Meerschweinchen gebaut hatten. Erst mit der Pubertät war ihre Beziehung schwierig geworden. Als Sebastian plötzlich mit einer Bierflasche vor ihm stand, kehrte er in die Gegenwart zurück.
»Darf ich nachschenken?«
Pielkötter starrte auf sein leeres Glas und nickte. Ursprünglich hatte er nicht vorgehabt, länger zu bleiben als unbedingt nötig, aber nun wollte er mindestens so lange bleiben, bis er herausgefunden hatte, ob sein Sohn in einem eigenen Zimmer oder etwa in einem zweckentfremdeten Ehebett schlief.
»Falls Sie mögen, zeige ich Ihnen die Wohnung«, bot Sebastian an, als hätte er seine Absicht erraten. »Dank vieler Helfer sieht es bei uns nicht einmal mehr nach Umzug aus. Nur in der Küche herrscht noch Chaos. Aber daran sind Sie ja schon vorbeigekommen.«
Pielkötter erhob sich augenblicklich und folgte dem Freund seines Sohnes in eine zweite, kleine Diele, die von dem Wohnraum abging. Sie hatte drei Türen. Zwei Schlafzimmer, ein Bad, hoffte Pielkötter.
»Hier ist das Bad«, erklärte Sebastian. Neugierig spähte Pielkötter in einen annähernd quadratischen, bis unter die Decke gekachelten Raum. Die bunt gemusterten Fliesen gefielen ihm nicht, aber in einer Mietswohnung konnte man sich das Design leider nicht aussuchen. Mit geübtem Blick für Details registrierte er die penible Ordnung. Keine herumliegenden Handtücher, keine Zahnpastaspritzer auf dem Spiegel, nicht einmal Kalkflecken auf den Armaturen. Dafür musste eine gute Reinigungsfrau oder aber Sebastian verantwortlich sein. Aufräumen und Putzen zählten nämlich nicht gerade zu Jan Hendriks Stärken. Pielkötter nickte anerkennend.
Stolz führte Sebastian ihn nach nebenan. Unter dem Fenster stand ein großer Schreibtisch, an den Wänden hingen mehrere Bücherregale. Offensichtlich diente der Raum lediglich als Arbeitszimmer, auch wenn direkt gegenüber der Tür ein breites Sofa stand. Jan Hendrik gehörte jedenfalls nicht zu den Ordnungsliebenden, die Bettzeug jeden Tag wegzuräumen pflegten. Seufzend folgte Pielkötter Sebastian ins Schlafzimmer. Dort stand das breite französische Bett, vor dessen Anblick er sich insgeheim gefürchtet hatte. Hinsehen ist allemal besser als Verdrängen, ermahnte er sich, während er auf den bunt karierten Bettbezug starrte.
»Die Gästetoilette liegt direkt neben der Wohnungstür«, erklärte Sebastian. »Ich halte zwei Toiletten für sehr praktisch.«
Wahrscheinlich empfindet er mein Schweigen als unangenehm, dachte Pielkötter. Vielleicht sollte er endlich einen Kommentar abgeben, aber er hatte sich selten in seinem Leben so unsicher gefühlt.
»Und die Mietpreise hier?«, brachte er mit Mühe hervor. Blöde Frage, seufzte er innerlich, bei zwei Verdienern, dazu eine Beförderung zum Oberarzt.
»Erschwinglich«, antwortete Sebastian lachend, »immerhin hat Janik nun auch noch einen zusätzlichen Job.« Sein Lachen wirkte befreiend.
»Einen neuen Fotoauftrag?«
»Nicht direkt. Er hilft mit, die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 zu vermarkten. Gelegentlich kreiert er sogar Werbeslogans. So was wie: Die neue Energie des Ruhrgebiets heißt Kultur . Zudem müssen ja die ganzen Programme koordiniert werden. Wahnsinn, welche Aktionen allein das Still-Leben Ruhrschnellweg abrunden sollen. Immerhin ziehen die ganzen Anrainerstädte mit: Duisburg, Mülheim, Oberhausen, Bochum, Dortmund.«
»Gelsenkirchen hast du noch vergessen«, wandte Jan Hendrik ein, der plötzlich hinter ihnen auftauchte. »Vor allem Essen. Schließlich hat sich Essen stellvertretend für die dreiundfünfzig Städte und Gemeinden der Metropole Ruhr beworben.«
»Aha, der Fachmann hat gesprochen. Weiß gar nicht, wie wir auf deine Arbeit gekommen sind. Eigentlich wollte ich deinem Vater nur die Wohnung zeigen.«
»Oh, der interessiert sich sicher mehr für die Behausungen von Verbrechern oder für das kalte Bier im Wohnzimmer.«
»Ein anderes Mal«, erwiderte Pielkötter hastig. »Deine Mutter wartet sicher schon mit dem
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