Die Sünderinnen (German Edition)
Carlos Santanas geniales Gitarrensolo aus den Boxen dröhnte, sah er wieder auf. Wohlwollend nahm er wahr, wie Daniel die Gläser erneut mit Whisky füllte. Der Pegel in der Flasche hatte sich inzwischen ordentlich gesenkt, aber das war jetzt sein geringstes Problem.
»Hast du ne Zigarette?«, fragte Mark.
»Seit wann rauchst du?«
»Nur in besonderen Situationen. Immer, wenn ich was zum Festhalten brauche.«
Daniel verschwand in der Küche und kam mit einer Packung Zigaretten wieder. »Eigentlich sind die für meine Mädels«, grinste er. »Wenn die im entscheidenden Moment unbedingt zum Automaten entwischen wollen.«
Umständlich fischte Mark eine Zigarette aus der angebrochenen Packung. Daniel beobachtete, wie er den Rauch tief inhalierte und dann stoßweise ausstieß.
»Mensch, Mark. Wie wäre es mit einer kleinen Eigentherapie? Du kannst nicht ernsthaft nur noch Trübsal blasen, nur weil deine Ehe zu scheitern droht.«
»Meine zweite«, korrigierte Mark mit ernster Miene. »Und ein Psychologe, der seine eigenen Probleme nicht in den Griff bekommt, macht sich nicht gut als Aushängeschild.«
»Dein Privatleben ist deinen Patienten doch egal«, entgegnete Daniel nun äußerst laut, um Carlos Santanas plötzlich euphorischen Einsatz zu übertönen. »Die bezahlen dich dafür, dass du ihres in Ordnung bringst. Legst du ihnen nicht selbst manchmal nahe, dass eine Trennung die beste Lösung ist?«
Augenblicklich musste Mark an die ermordete Barbara Winkler denken. »Eine meiner Patientinnen hat die Trennung mit ihrem Leben bezahlt«, erklärte er dem verdutzten Daniel.
»Glaubst du wirklich, der Mord hängt mit der Trennung zusammen?«
Mark ließ diese Frage unbeantwortet und erhob sich.
Leicht schwankend suchte er die Toilette auf. Seit Langem hatte er dem Alkohol nicht mehr so zugesprochen wie heute. Trotzdem bereute er nicht einen einzigen Tropfen. Mit einem Promille im Blut glaubte er gern, dass ein kleiner Rausch den Horizont durchaus erweitern konnte. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte Daniel die Gläser bereits wieder bis zum Rand gefüllt. Der Rest in der Flasche bedeckte gerade einmal den Boden. Okay, entschied Mark, fahren konnte er ohnehin nicht mehr. Wohlig seufzend gönnte er sich einen großen Schluck. Der vorzügliche Whisky brannte sich angenehm die Kehle hinunter. Während sich die Flasche vollkommen leerte, vermieden sie nun alle brisanten Themen. Gegen Morgen rief Mark ein Taxi.
In der Nacht plagten Mark furchtbare Träume. Immer wieder sah er die blutüberströmte Lea vor sich. Dabei veränderten sich ihre Züge, bis er schließlich Susannes Gesicht darin erkannte. Erschrocken fuhr er hoch. Das leere Bett neben ihm wirkte nicht gerade beruhigend. Zudem litt er unter höllischen Kopfschmerzen. Anscheinend hatte er genau ein Gläschen mehr getrunken als die halbe Flasche. Oder Daniels Anti-Kater-Garantie für besagtes Quantum war schlichtweg eine Lüge. Benommen wankte er ins Bad und wühlte den Spiegelschrank durch, bis er endlich eine Schachtel Aspirin gefunden hatte. Sie war fast leer. Mit unruhiger Hand löste er die letzte Tablette im Zahnputzbecher auf und trank das Gebräu in einem Zug. Erst jetzt warf er einen Blick in den Spiegel. Er hätte es besser bleiben lassen. Wenn eine Rasur kein entscheidendes Wunder bewirkte, sollte er sich heute besser nicht unter Menschen begeben. Selbst nachdem er kalt geduscht und gefrühstückt hatte, fühlte er sich nicht viel besser. Gegen elf kam Daniel vorbei, um ihn zu seinem Wagen zu kutschieren.
Die Sonne strahlte vom tiefblauen Maihimmel. Nur in der Ferne kündigten einige weiße Wölkchen einen Wetterumschwung an. Die Menschen auf dem Trierer Marktplatz achteten jedoch nicht darauf und freuten sich über das schöne Wetter und die Möglichkeit, im Freien zu sitzen. An der frischen Luft genossen sie einen Cappuccino, ein kühles Erfrischungsgetränk oder eine kleine Speise. Sie streckten ihre Köpfe der Sonne entgegen, steckten sie mit dem Sitznachbarn zu einem Plausch zusammen oder bevorzugten den Schatten unter den bunten Sonnenschirmen. In vielen Gesichtern spiegelte sich gute Laune wieder, selbst in denen der Kellnerinnen und Kellner, die unzählige Getränke und schmutziges Geschirr auf ihren Tabletts hin und her transportieren mussten.
Nur ein Mann saß trübsinnig an einem Tisch. Obwohl alle Sitzgelegenheiten belegt waren bis auf zwei Stühle neben ihm, mochte niemand in seiner Nähe Platz nehmen. Versunken in
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