Die Sünderinnen (German Edition)
umgesehen, aber das gestattete sie sich nicht. Erst als ein zweiter Weg ihren Pfad kreuzte, bog sie rechts ab und schielte dabei so unauffällig wie möglich zurück. Er hatte den Abstand inzwischen so weit verringert, dass sie sein helles Haar erkennen konnte und eine dunkle, große Hornbrille. Obwohl sie ziemlich sicher war, den Mann nie zuvor gesehen zu haben, kam ihr irgendetwas an ihm bekannt vor. Wenn der Gedanke, ihr Exmann spioniere ihr hinterher, sie zunächst erschreckt hatte, so gestand sie sich nun ein, dass sie merkwürdigerweise hier lieber mit Klaus Eberhard zusammengetroffen wäre als mit diesem Mann, den eine unheimliche Ausstrahlung zu umgeben schien.
Natürlich hoffte sie, dass der Fremde geradeaus weitergehen oder nach links abbiegen würde, aber instinktiv fühlte sie, dass er ihr folgen würde. Mehr noch, er ver folgte sie. Aber warum? Und wieso kam ihr irgendetwas an dem Verfolger bekannt vor? Hatte Klaus Eberhard den Mann etwa engagiert? Immerhin hatte er genug Drohungen ausgestoßen. Während sie nun fast rannte, verwünschte sie ihre Entscheidung, zu solch früher Stunde allein in einen fast menschenleeren Wald zu laufen. Sie musste so schnell wie möglich zu ihrem Wagen zurück.
Die Angst schien ihren Verstand zu lähmen, doch langsam reifte der Gedanke, einfach umzukehren. Damit würde sie nicht nur den kürzesten Weg nehmen, sondern gleichzeitig Gewissheit erhalten, ob ihre Befürchtungen wirklich einen realen Hintergrund hatten. Durch die Umkehr würde sie den Mann zum Handeln zwingen, sofern er tatsächlich irgendwelche Absichten verfolgte. Während sie anhielt, hörte sie ein Geräusch hinter ihrem Rücken. Erschrocken drehte sie sich um und starrte direkt in ein schwarzes, konturloses Gesicht. Sie fühlte sich wie gelähmt. Der Mann hatte Gesicht und Haare nun hinter einer Strumpfmaske verborgen. Nur die Augen blitzten ihr aus zwei Löchern entgegen, drückten Hass und Entschlossenheit aus. Obwohl sie keinerlei Waffe entdecken konnte, wusste sie, dass sie gegen ihn keine Chance hatte.
Warum gerade ich, fragte sie, dabei hatte diese Frage im Moment eigentlich keine Bedeutung. Nur noch die Flucht. Ja, sie musste fliehen, solange der Mann sie noch nicht in seine Gewalt gebracht hatte.
In wilder Panik rannte sie los. Nach wenigen Metern war der Mann genau hinter ihr und schlang einen Arm um ihre Taille, den anderen um ihren Hals. Sie schrie aus Leibeskräften, doch im Nu presste sich eine breite Hand auf ihren Mund. Verzweifelt versuchte sie, die Zähne nach vorne zu schieben und in die Hand zu beißen. Während sie dabei nach hinten trat, schleifte der Mann sie über den Weg ins Gebüsch, als sei sie nur eine wehrlose Puppe.
Ich bin verloren, dachte sie. Unwillkürlich rannen Tränen über ihr Gesicht und benetzten die Hand, die immer noch ihren Mund zuhielt. Der Mann jedoch kannte kein Erbarmen. Merkwürdigerweise war sie froh, ihn jetzt nicht anschauen zu müssen. Er schleifte sie einige Meter weiter durch das Dickicht, dann stieß er sie zu Boden. Obwohl ihr davor graute, musste sie sich nun doch umdrehen. Mit einem Mal mochte sie der Gefahr lieber direkt ins Gesicht sehen, als wie ein Opferlamm zu warten, bis das Schlimmste eintraf. Sie wollte wissen, was mit ihr passierte.
Als der Mann sie für einen Moment losließ, rollte sie auf den Rücken. Die schwarze Strumpfmaske entsetzte sie noch mehr als beim ersten Anblick. Instinktiv wollte sie schreien, hielt dann aber inne. Zu sehr fürchtete sie seine Hand und den abscheulichen Geruch nach Desinfektionsmitteln, den seine Haut verströmte. Verzweifelt tastete sie den Boden neben ihrem Körper nach einem Stock ab. Sie fand jedoch nichts, womit sie sich hätte verteidigen können. Es war ihr egal, dass er sie dabei beobachten konnte. Fieberhaft suchte sie weiter, dann sah sie mit Entsetzen, dass er einen Strick hervorzog. Unverhohlener Hass glomm nun in seinen Augen. Während er sich blitzschnell auf sie stürzte, gellten ihre Schreie durch den Wald.
Plötzlich ertönte weit hinten Hundegebell. Während das bellende Tier sich zu nähern schien, sprang der Mann auf und verschwand im Dickicht, noch ehe ein ausgewachsener Schäferhund sie erreicht hatte. Er stupste sie mit feuchter Schnauze an und winselte. Normalerweise hatte sie Angst vor größeren Hunden, aber jetzt strömten ihre Tränen vor Erleichterung nur so aus ihr heraus.
»Hektor, hierher«, rief jemand vom Waldweg. »Hektor, komm schon!«
Der Hund drehte den Kopf,
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