Die Sünderinnen (German Edition)
blieb aber stehen. Schließlich bellte er in einer anderen Tonart als vorhin. Marion Karsting wollte sich aufrichten und dem Besitzer entgegenlaufen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst.
»Hilfe!«, schrie sie, während der Hund nun laut jaulte. Noch immer liefen ihr die Tränen über die Wangen.
»Hektor!«, rief jemand nun aus der Nähe.
Ehe sie zu weiteren Hilferufen fähig war, eilte ein Mann mittleren Alters in einer grünen Windjacke herbei. Überrascht blieb er vor ihr stehen und sah an ihrem Körper hinunter. Erst jetzt registrierte sie, dass ihr Blazer zerrissen war und zwei Knöpfe fehlten.
»Um Himmels willen, was ist denn mit Ihnen geschehen?«, fragte er sichtlich erschrocken.
»Ich wurde überfallen«, stammelte sie, wobei sich ein neuer Strom Tränen aus ihren Augen ergoss. »Ihr Hund hat mich gerettet. Wenn er nicht gewesen wäre …»
»Beruhigen Sie sich. Jetzt ist alles gut, Sie sind sicher.« Der Mann half ihr beim Aufstehen, reichte ihr seinen Arm und führte sie zum Waldweg zurück. Dort wartete eine Frau. Merkwürdigerweise stellte sie keine Fragen, sondern umarmte Marion Karsting stumm. Regungslos blieben die beiden Frauen eine Weile so stehen.
»Ich habe so etwas auch schon erlebt«, erklärte die Frau, nachdem sich Marion wieder etwas gefangen hatte. »Deshalb haben wir Hektor angeschafft. Er ist darauf dressiert, mir beizustehen.«
»Mein Wagen steht dort hinten«, erwiderte Marion Karsting mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam, »wenn Sie mich bis dorthin begleiten würden, dann komme ich schon zurecht.«
»Wir lassen Sie auf keinen Fall allein. In Ihrem Zustand können Sie sich unmöglich hinter das Steuer setzen. Selbstverständlich fahren wir Sie zur Polizei.«
»Danke«, gab sie dankbar sofort nach und ließ sich von dem Ehepaar samt Hektor zu einem roten Kombi führen, der unmittelbar neben ihrem Wagen parkte.
»Ist das Ihr Wagen?«, fragte die Frau.
Sie nickte.
»Falls Sie möchten, fährt mein Mann mit Ihrem Wagen hinter uns her zur Polizei. Von dort wird man Sie sicher samt Auto nach Hause bringen.«
»Wenn Sie so nett wären«, antwortete Marion Karsting und kramte in ihrer kleinen Umhängetasche nach dem Autoschlüssel.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie die Tasche nicht im Wald verloren hatte. Das schwarze Ledertäschchen, das sie im letzten gemeinsamen Urlaub mit Klaus Eberhard erstanden hatte, hing tatsächlich immer noch quer über ihrer Brust. Offensichtlich hatte der Angreifer nicht nach Geld oder Wertgegenständen gesucht, aber das hatte ihr sein hasserfüllter, entschlossener Blick auch schon verraten. Ein lautes Wuff unterbrach ihre Gedanken. Hektor stand vor der Heckklappe und konnte es anscheinend kaum erwarten, ins Wageninnere zu springen.
Auf dem Weg zur Polizei erzählte die Frau, die sich mittlerweile mit Daniela Köhler vorgestellt hatte, von ihrem eigenen Erlebnis. Sie war nur sehr knapp einer Vergewaltigung entkommen. Dankbar hörte Marion Karsting ihr zu, froh, nicht selbst sprechen zu müssen. Die Polizei würde sie noch früh genug an jedes grausame Detail erinnern. Als Daniela Köhler schließlich vor der Polizeiwache hielt, wäre sie am liebsten davongerannt. Immerhin hatte Klaus Eberhard ihr oft von Befragungsmethoden erzählt, über die sich besonders weibliche Opfer beschwerten. Dabei hatte er die Empfindungen der Frauen natürlich nicht nachvollziehen können, sie obendrein als hysterische Zicken abgestempelt. Daniela Köhler stellte den Wagen ab und lächelte ihr aufmunternd zu.
»Ich begleite Sie.«
»Das ist sehr freundlich«, erwiderte Marion Karsting, »aber ich habe Ihren Sonntagmorgen wohl schon genug durcheinandergebracht.«
»Die Polizei wird uns ohnehin als Zeugen befragen wollen.«
Der Mann kämpfte sich durch das Dickicht. Er musste unbedingt seinen Wagen erreichen, ehe Marion Karsting oder ihre Helfer Alarm schlagen konnten. Nur gut, dass er das Auto nicht direkt hinter ihrem Fiat, sondern weiter vorne am Straßenrand geparkt hatte. Keuchend rannte er weiter, dabei hatte er das Gefühl, als sei alle Lebensenergie aus ihm gewichen. Während die ersten beiden Morde ihm ein Hochgefühl beschert hatten, fühlte er sich nun völlig niedergeschlagen. Der Erfolg seiner Mission war ihm wie eine nachträgliche Legitimation erschienen, und nun durchkreuzte dieser Fehlschlag seinen Siegeszug. Merkwürdigerweise fühlte er sich dadurch irgendwie beschmutzt. Das sündige Blut seiner Opfer hatte ihn bisher
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