Die Sünderinnen (German Edition)
offensichtlich dunkle Gedanken starrte er vor sich hin. Nur ab und zu ließ er den Blick über die plaudernden, gut gelaunten Menschen hinweg bis zu den hübschen historischen Gebäuden schweifen, die den Marktplatz einrahmten. Was hatte er sich von diesem Besuch versprochen? Hatte er wirklich daran geglaubt, seine Frau Luisa hier wiederzufinden? Er hatte sie immer Luisa genannt, nach seiner Mutter, obwohl sie nicht Luisa hieß. Seltsamerweise hatte sie nichts dagegen gehabt.
Auch nach so vielen Jahren konnte er sich noch gut an ihre erste Begegnung erinnern. Genau vor dem Rathaus war er mit ihrem Fahrrad zusammengestoßen. Das Rad war umgekippt und eine zerbrochene Saftflasche hatte sich über ihre Examensarbeit ergossen, die sie an diesem Tag kopieren wollte. Glücklicherweise war ihr selbst nichts passiert. Stumm und mit ungläubigen Augen hatte sie auf die Bescherung gestarrt. Er hatte die Sprache als Erster wiedergefunden und ihr sofort seine Hilfe angeboten.
Wie anders wäre sein Leben verlaufen, wenn sie sein Angebot abgelehnt hätte? Aber sie hatte nicht abgelehnt. Vielleicht hatte er ihr auf Anhieb gefallen. Möglicherweise jedoch hatte der zeitliche Druck durch den Abgabetermin ihrer Arbeit den Ausschlag gegeben. Komischerweise hatten sie niemals drüber gesprochen. Zu viele Geheimnisse waren unausgesprochen geblieben, auch wenn sie sich während der gemeinsamen Arbeit immer näher gekommen waren, nah genug, um sich zu verbrennen.
Auch jetzt noch brannte alles in ihm, wenn er nur an Luisa dachte, nicht nur hier in Trier. Warum also war er hergekommen? Um seinen Auftrag zu erneuern? Ja, er musste sein Werk weiterführen und alle Sünder bestrafen. Hier würde er die Kraft dazu finden.
Unruhig schaute er auf seine Armbanduhr, warf dann einige Münzen auf den Tisch und erhob sich. Ohne sich an den schönen alten Fassaden der Häuser zu erfreuen, lief er in Richtung Dom.
Oft schon hatte er diese älteste Bischofskirche Deutschlands betreten. Andächtig schlenderte er durch den römischen Zentralbau, besichtigte Grabmäler, Grabaltäre und die Schranken des Ostchores. Schließlich verweilte er eine ganze Weile in der vierschiffigen Ostkrypta. Er überlegte kurz, ob er sich auch noch einmal den Domschatz ansehen sollte, entschied sich aber dagegen. Aus gutem Grund würde er den Anblick der liturgischen Geräte nicht ertragen können.
Draußen brannte das gleißende Sonnenlicht in seinen Augen. Weitaus schlimmer jedoch empfand er den bohrenden Schmerz in seinem Inneren. Als ob er ihm davonlaufen könnte, beschleunigte er seinen Schritt. Während er lief, fast rannte, nahm er seine Umwelt kaum wahr, bis er plötzlich vor der Porta Nigra stand. Er sah kurz hoch und wandte sich wieder in Richtung Stadtmitte. Eine Zeitlang streifte er scheinbar ziellos durch die Innenstadt, doch dann stand er vor dem altehrwürdigen Gebäudekomplex, mit dem er so manche schöne und auch bittere Erinnerung verband. Die zwei steinernen Säulen an der Eingangspforte zum vorderen Hof sprachen ihn immer noch ganz besonders an. Tritt ein in dieses ehrwürdige Haus, riefen sie ihm immer noch zu. Bereite dich hier vor, auf den Augenblick der Weihe. Er jedoch stand draußen, an dem schmiedeeisernen Zaun. Als er an dem trutzigen Eckturm emporblickte, lichtete sich mit einem Mal der Nebel in seinem Kopf: Er hatte doch eine Bestimmung gefunden. Seine blutige Mission duldete keinerlei Aufschub mehr. Die Häscher waren dicht auf seinen Fersen.
Als Marion Karsting erwachte, strahlte die Sonne durch die Ritzen der Rollos und hinterließ ein gestreiftes Muster auf der Tapete. Während sie sich noch eine Weile in die Bettdecke kuschelte, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit, genauer gesagt zu ihrem früheren Leben, wie sie die Zeit vor der Trennung zu benennen pflegte. Zufrieden mit sich und der Welt lächelte sie vor sich hin. Seit sie sich nicht mehr vor Klaus Eberhards brutalen Ausbrüchen fürchten musste, konnte sie kaum noch verstehen, wie sie es so lange mit ihrem Mann hatte aushalten können. Besser eine späte Erkenntnis als gar keine, dachte sie und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf.
Was hatte Klaus Eberhard nicht alles angestellt, um sie von der endgültigen Trennung abzuhalten. Körbeweise Blumen hatte er durch Fleurop zu ihrer Schwester und zu ihrer neuen Wohnung geschickt. Dabei wusste sie immer noch nicht, wie er herausfinden konnte, dass ausgerechnet Jutta sie zunächst aufgenommen hatte. Vielleicht hatte er auf
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