Die Sünderinnen (German Edition)
dringend in seine Praxis fahren, weil genau dort der Schlüssel zu den grauenvollen Morden lag. Wenn die Polizei den Patientenakten und den Dateien auf seinem Laptop so viel Bedeutung beimaß, gab es sicher einen Grund dafür.
Auf der Fahrt in die Innenstadt kreisten seine Gedanken unaufhörlich um diese Dokumente. Irgendetwas Wichtiges musste er übersehen haben. Im Geiste ging er seine Patientenkartei durch.
Und dann kam auf einmal die Erinnerung zurück an den Morgen, als er die Kartei in einer ungewöhnlichen Ordnung vorgefunden hatte. Bevor er abends seine Praxis verließ, suchte er stets die Akten der ersten beiden Patienten des nächsten Tages heraus und stellte sie an den Anfang der Kartei. An jenem Morgen hatte er die Akten jedoch alphabetisch eingeordnet vorgefunden. Natürlich hätte er das Umsortieren einmal vergessen können, aber zusätzlich hatte ihn ein ungewöhnlich herber Geruch in seiner Praxis irritiert. Der ungewöhnliche Duft hatte ihn an das Rasierwasser seines einzigen, längst verstorbenen Onkels erinnert. Ein Patient jedoch, der dieses Rasierwasser benutzte, wollte ihm nicht einfallen. Seine Putzfrau konnte er für den herben Duft auch kaum verantwortlich machen. Natürlich hatte er an einen Einbruch gedacht. Aber diese Indizien hatten ihm damals für eine Anzeige nicht ausgereicht. Außerdem hatte er nichts vermisst. Bald schon hatte er die merkwürdige Angelegenheit so gut wie vergessen.
Nun aber erschienen ihm diese Ungereimtheiten in einem ganz neuen Licht. Womöglich waren sie der Schlüssel zu den grauenvollen Morden. Plötzlich konnte er seine Praxis nicht schnell genug erreichen. Allerdings schlich der Autofahrer vor ihm so langsam auf die grüne Ampel zu, dass Mark ihn am liebsten angeschoben hätte. Verärgert registrierte er, wie die Ampel umsprang und sein Vordermann gerade noch bei Gelb hinüberrauschte.
»Mist«, fluchte er.
Jetzt fehlte nur noch, dass er stundenlang nach einem Parkplatz suchen musste. Aber er hatte Glück. Eilig quetschte er sich in eine halbwegs akzeptable Parklücke, dann lief er die wenigen Schritte zu seiner Praxis.
Er begann damit, alle Namen aus seinem Gedächtnis zu notieren. Nachdem er etliche Patienten aufgelistet hatte, legte er den Füllfederhalter plötzlich zur Seite. Der Name, den er soeben aufgeschrieben hatte, lautete Katharina Burgmeister. Abgesehen von Lea, war sie die erste Patientin, die er durch Tod verloren hatte. Durch einen Autounfall, wie er gehört hatte. Seltsamerweise erinnerte die letzte Phase ihres Lebens auffallend dem Schicksal aller ermordeten Patientinnen.
Er konnte er sich noch gut an die Frau erinnern. Mit Anfang vierzig hatte sie noch einmal ein Studium begonnen und sich nach dem Abschluss wieder ins Berufsleben gestürzt. Ihrer traditionellen Ehe war diese Art von Emanzipation nicht gerade gut bekommen. Deshalb hatte sich Katharina Burgmeister gegenüber ihrem Mann schuldig gefühlt. Ihr Unterbewusstsein hatte die Spannungen in einem Waschzwang zu kompensieren versucht. Mark hatte ihr schließlich helfen können, indem er ihren Willen gestärkt hatte. Leider war ihre Ehe dabei auf der Strecke geblieben. Die Parallelen zu den ermordeten Frauen erschreckten ihn. Genaueres würde er aus ihrer Karteikarte erfahren.
Aber die Karteikarte von Katharina Burgmeister fehlte.
Mit zitternden Fingern ging er noch einmal die ganze Kartei durch. Er selbst hatte die Karte garantiert nicht ausgesondert, nur weil die Patientin verstorben war. Für das Fehlen konnte es nur eine Erklärung geben. Der Mörder war tatsächlich in seine Praxis eingebrochen, hatte die Fälle herausgesucht, in denen es um Trennung ging, sich die notwendigen Informationen über diese Patientinnen aus der Kartei beschafft und gleichzeitig die Spur zu Katharina Burgmeister beseitigt. Aufgewühlt klappte Mark seinen Laptop auf. Zum Glück hatte er alle Daten noch einmal gespeichert. Vor lauter Aufregung tippte er beim ersten Anlauf ein falsches Passwort ein. Endlich fand er die Akte von Katharina Burgmeister. Ihr Mann hieß Benedikt. Jetzt konnte Mark nur hoffen, dass seine Adresse noch stimmte. Eilig kritzelte er die Anschrift auf einen Notizzettel, dann verließ er sein Büro.
Während Mark das beige gestrichene Jugendstilhaus im Duisburger Südviertel musterte, überfiel ihn eine undefinierbare Unruhe. Hier also wohnte Benedikt Burgmeister, sofern er nicht in der letzten Zeit verzogen war. Jedenfalls brauchte ein alleinstehender Mann kaum so viel Platz.
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