Die Süße Des Lebens
selbst schützen, und erstarrte. Sie wurde erst wieder lockerer, als Horn sich zurückzog und auf seinem Schreibtischstuhl Platz nahm. Ihre Arme sanken nach unten und sie begann sich neuerlich die Wand entlang zu bewegen, am Spielzeugregal vorüber, bis zum Kleiderschrank. Den Rücken an die Schranktür gepresst, glitt sie langsam zu Boden. Während der gesamten Zeit ließ sie Horn keine Sekunde aus den Augen. Sie kann mich nicht einschätzen, dachte er, sie weiß nicht, wer ich wirklich bin. Sie weiß, dass ich hier im Spital arbeite, und sie weiß, dass im Spital die Menschen sterben. Vielleicht bin ich derjenige, der ihren Großvater sterben hat lassen, und als nächste ist sie dran.
Horn schaute die Steckleiste mit den Kasperlfiguren an und überlegte, wen er wohl am besten sterben lassen sollte. Den Polizisten? Den Räuber? Kasperl oder Seppel? Den Zauberer? Mehr männliche Figuren hatte er in seiner Sammlung nicht. Eigentlich eine Sauerei, dachte er, dass die Großmutter im Kasperltheater eine Selbstverständlichkeit ist und der Großvater die absolute Ausnahme. Mütter kamen nicht vor, Väter ebenso wenig und Großväter erst recht nicht. Der Räuber passte altersmäßig am ehesten, war allerdings eine hundertprozentig unsympathische Gestalt. Ähnliches galt für den Zauberer. Kasperl oder Seppel sterben zu lassen, kam sowieso nicht in Frage, und die Polizisten waren infolge der Ereignisse der vergangenen Tage eine eindeutig besetzte Bevölkerungsgruppe. Ich hab die Hemmung bereits ziemlich in mir drin, dachte Horn, ich bin absolut unfähig, mich zu entscheiden. Er nahm die fünf Figuren von der Leiste und legte sie nebeneinander auf den Boden. Ich werde es ihr überlassen, dachte er, ich werde sie fragen: ›Wen von den Fünfen sollen wir sterben lassen?‹, und sie wird auf einen von ihnen zeigen.
In Wahrheit musste Horn im nächsten Augenblick gar nichts mehr tun und wurde seines Dilemmas ganz locker enthoben, denn Katharina hatte soeben begonnen, auf dem Hintern quer durch den Raum zu rutschen, direkt auf das Bücherregal zu. Bücher, dachte er und hob die Handpuppen vom Boden auf, erste Klasse Volksschule – ein wenig wird sie schon lesen können, und er dachte daran, wie schwer er sich selbst seit Michaels desaströser Schulgeschichte mit dem Thema Schule und Lesenlernen tat.
Michael litt an einer gravierenden Teilleistungsstörung, die ihm anfangs das korrekte Aneinanderreihen von Buchstaben vollkommen unmöglich gemacht hatte, und, wie es der Zufall gewollt hatte, war die Störung mit einer Klassenlehrerin kombiniert gewesen, deren süßliches Getue primär aus pädagogischer Ahnungslosigkeit und versteckter Aggression gespeist wurde. Irene war von einem Ausnahmezustand in den nächsten getorkelt, und als die Lehrerin nicht aufhörte, Michaels Übungshefte mit dickem Rotstift zu korrigieren, hatte sie ihre ganze Wut erst im Büro des Direktors und dann, da sich dieser als nervös hüstelnder Waschlappen erwies, in jenem des Bezirksschulinspektors entladen. Dies hatte letztlich dazu geführt, dass die Lehrerin vor jeder Beurteilung Irene angerufen und gemeint hatte, sie solle ihr einen Vorschlag machen, und exakt die genannte Note werde sie unter die jeweilige Arbeit schreiben. Zum Semester der dritten Klasse hatten sie Michael jedenfalls die Schule wechseln lassen, was einerseits zu heftigen Tränen geführt hatte, da er eine Reihe von Freunden verlor, andererseits dazu, dass er am Ende der vierten schließlich halbwegs lesen konnte. Das Schreiben war freilich nach wie vor eine Katastrophe gewesen und in Michaels Beziehung zu seiner Mutter hatte sich vermutlich schon damals ein unkittbarer Riss gebildet gehabt. Ihm, Horn, war die Sache erst klar geworden, als der Bub selbst es einige Jahre später seiner Mutter gegenüber formulierte: Es hat dir nie gepasst, wie ich bin!, und er hatte zugleich gewusst, dass er selbst nichts, aber auch schon gar nichts, gegen das Entstehen dieser Kluft unternommen hatte. Michael hatte schließlich mit viel Plackerei die Hauptschule hinter sich gebracht und war im Lauf der Zeit ein scheuer, wenig ausgeglichener Knabe geworden. Erst nach der Schule, und wenn sie ehrlich waren, mussten sie sagen, erst als er erlebte, dass es möglich war, den Ansprüchen der Familie ein Stück zu entkommen, hatte sich die Angelegenheit zum Besseren gewendet. Michaels Lehrherr, der Besitzer eines kleinen Zimmereibetriebes in Mooshaim, hatte ihn von Anfang an gemocht und gefördert und
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