Die Süße Des Lebens
Erfreuliches und es machte Raffael Horn gar nichts, dass er es aus einem Buch tun würde, das er in Wahrheit nicht mochte.
Es war nicht vorgesehen, dass während einer Therapiestunde das Telefon läutete. Daher erschrak Horn heftig. Katharina hob kurz den Kopf, mehr nicht. Dressler, der blinde Telefonist, der Horns Stundenliste üblicherweise im Kopf hatte, entschuldigte sich wortreich und sagte, dieses Gespräch habe er beim besten Willen nicht abwimmeln können. Horn dachte erst an Irene und Michael, dann an Heidemarie, und spürte, wie sich eine Klammer um seinen Hals legte. Irgendetwas war passiert.
Als sich Ludwig Kovacs meldete, der Leiter der Abteilung Kapitalverbrechen der städtischen Kriminalpolizei, entspannte ihn das auch nicht. Er griff sich an den Nacken. Nach mehrmaligem Räuspern fragte Kovacs: »Wie geht’s mit der Kleinen?« Vielleicht war doch nichts passiert. Horn atmete wieder ruhiger.
»Ich bin mitten in einer Stunde.«
»Ich brauche nur eine Sekunde und eigentlich dürfte ich es dir noch gar nicht sagen, aber ich denke, vielleicht ist es wichtig: Der alte Wilfert ist mit Vorsatz getötet worden.«
Sie irren sich, war das Erste, was Horn dachte, keiner bringt jemanden um, indem er ihm vorsätzlich über den Kopf fährt. Leute erschießen oder erschlagen einander oder tauchen einander unters Wasser, bis der Schwächere tot ist, aber so? Nein.
Katharina hatte begonnen, das Buch durchzuschauen, und war bei der ersten Illustration angelangt. Sigmund mit dem grauen Pferd. Es schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken.
»Seid ihr sicher?«, fragte Horn.
»Absolut.«
»Ich kann jetzt keine Fragen stellen, ich hoffe, du verstehst das.«
»Natürlich. Du rufst mich einfach an, wenn du etwas wissen willst, und du rufst mich auch an, wenn die Kleine etwas sagt.«
»Heißt das, ihr wisst noch nichts? – Wer es war, meine ich.«
»Nein, wir wissen noch nichts«, sagte Kovacs. Dann legte er auf.
Katharina war bei einem Bild angelangt, auf dem Siegfried Kriemhild gegenübertrat. Er hatte höflichkeitshalber den Helm abgenommen, trug ihn auf dem Arm und deutete eine Verbeugung an. Katharina legte den linken Zeigefinger zuerst auf den Kopf der Frau, dann auf jenen des Helden. Sie wirkte äußerst konzentriert. Es geht um die Köpfe, dachte Horn, indem sie hingreift, versichert sie sich, dass sie noch heil sind – wie ein kleines Kind. Sie hat Angst, dass mit ihrem Kopf das Gleiche passieren wird wie mit jenem des Großvaters; diese Angst macht sie stumm. Vermutlich würde es keinen Grund geben, Kovacs anzurufen, und das war auch in Ordnung so. Psychotherapie machte man besser ohne Beteiligung der Polizei.
Horn sah, wie das Mädchen über die Illustration von Siegfrieds Kampf mit dem Drachen hinwegblätterte. Die nächste war das Bild, auf dem Hagen Siegfried den Speer zwischen die Schultern bohrte. Auch sie löste nichts Besonderes aus. Horn wusste, wie konsequent traumatisierte Menschen in ihrer Verleugnung sein konnten, und war daher nicht wirklich erstaunt. Hagen ist ein Mörder, dachte er, und Sebastian Wilfert ist ermordet worden, das ist ein rein rationaler Zusammenhang, mehr nicht. Im Blick auf das Mädchen schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf und er schrieb ›Unfall‹ auf den gelben Notizzettel, der auf seinem Schreibtisch lag. Plötzlich war ihm flau im Magen.
Der Ritter, den Katharina genau betrachtete, ähnelte jenem auf dem Buchdeckel: riesiges Schwert, Schild mit Wappen drauf, das Visier geschlossen, oben auf dem Helm ein Federbusch. Er gehörte zur Geschichte ›Das Turnier in König Laurins Rosengarten‹. Wer genau der Ritter war, wusste Horn nicht. Dietrich von Bern vielleicht oder Ilsan, der streitbare Mönch. Das Einzige, woran er sich erinnern konnte, war, dass der Preis für den Sieger ein Kuss der Prinzessin gewesen war.
»Unsere Zeit ist um«, sagte Horn schließlich. Katharina klappte das Buch zusammen und stellte es ins Regal zurück. Die Köpfe lässt sie bei mir, dachte Horn, das ist gut so.
Die Mutter hatte die gleiche skeptische Miene aufgesetzt wie vor fünfzig Minuten. Wiederum stand sie auf. »Spricht sie schon?«, fragte sie. »Natürlich spricht sie schon«, antwortete Horn, »durch das, was sie tut, spricht sie.« Beim Verabschieden sah er, dass das Mädchen offensichtlich irgendwann den Zipp der Eichhörnchenjacke geöffnet hatte. Er hatte nichts davon bemerkt.
Wir haben einen Mörder in der Stadt, dachte Horn eine Minute später. Er zerknüllte den
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