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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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ist auch niemand da, dachte Horn.
    »Geht er oder bleibt er?«, fragte Herbert draußen vor dem Zimmer. »Er bleibt«, sagte Verena, »er weiß nicht, was er eingenommen hat, und er hat Angst davor, dass es ihm wieder so schlecht geht wie zuletzt.« Herbert war nicht so sicher, tendierte aber eher dazu, dass er gehen würde. »Er empfindet es als unerhört, ihm selbst Verantwortung zuzumuten, denn er besitzt selbst keinen Begriff davon.« »Da ist was dran«, sagte Horn. Mehr sagte er nicht, vor allem nicht, dass er ziemlich sicher war, dass Benedikt Ley auf der Stelle seine Mutter anrufen und sie bestürmen würde, ihn doch möglichst gleich abzuholen. Die Frau in ihrer violetten Kleidung würde wenig später auf der Station stehen, den Blick zu Boden senken und sagen: »Aber wenn er es sich doch so wünscht.« Horn würde fragen, ob ihn der Vater verprügeln werde, und die Frau würde weiterhin nach unten schauen und den Kopf schütteln.
    Bei den anderen dreien war auch nichts Besonderes los. Stefan Reisinger, der frühpensionierte Elektriker mit der schizoaffektiven Psychose, hatte nach Reduktion seines Neuroleptikums eine deutlich geringere Bewegungshemmung als an den Vortagen, Friedrich Helm, der Gerichtsdiener mit der manisch-depressiven Erkrankung, schien antriebsmäßig schön langsam auf ein für ihn selbst und für seine Umgebung erträgliches Niveau zu gelangen, und Liane Bäuerle, chronisch präsuizidale Gymnasiallehrerin für Latein und Geschichte, hatte ständig Besuch von ihren Verwandten und war daher ausreichend abgelenkt. Es war kein Neuzugang angekündigt und auch Abtransferierung stand keine zur Diskussion. Die Angelegenheit mit Caroline Weber würde er ohne Amtsarzt und zwangsweise Verlegung an die Wiener Klinik ins Lot bringen, das wusste Horn. Man konnte also guten Gewissens die Visite schließen und sich dem Hühnercurry zuwenden.
    Als Horn um zehn vor zwei auf die Kinderstation kam, saß das Mädchen neben seiner Mutter in der Besucherecke. Es trug wie zuletzt die grüne Steppjacke und die Pelzstiefel und hatte die rechte Hand nach wie vor zur Faust geballt. Die Mutter erhob sich, um Horn zu begrüßen. »Sie ist nicht dazu zu bewegen, die Sachen auszuziehen«, sagte sie und zuckte hilflos mit den Schultern. »Kein Problem«, antwortete er, »wir werden das schon klären.« Die Frau warf einen langen zweifelnden Blick auf ihre Tochter. Horn sagte: »Gehen wir?« und machte eine einladende Geste. Das Mädchen legte die linke Hand um die geballte rechte, stand auf und folgte ihm. Irgendetwas interessiert sie, dachte Horn, das ist zumindest ein Anfang. Er erinnerte sich an die ungeheure Lähmung der letzten Stunde und daran, dass ihm auch seine professionellen Rationalisierungen nur bedingt geholfen hatten: Hemmung ist ein Phänomen, das durch unbewältigte Ambivalenz oder durch Angst entsteht. Nimm die Hemmung ganz in dich hinein, erst dann kannst du ihre Ursache spüren. Angst bei Kindern äußert sich in vielerlei Gestalt, jedoch kaum jemals in schreckensgeweiteten Augen. Und so weiter und so fort. Am ehesten entlastet hatte ihn die Vorstellung, selbst vor einem alten Mann zu stehen, dem jemand mit einem Traktor über den Kopf gefahren war, und zu spüren, wie es ihm augenblicklich die Sprache verschlug. Ich bin achtundvierzig und in Wahrheit immer noch ein zu ungeduldiger Mensch, dachte er, ich habe zwei Söhne, von denen einer schon außer Haus ist, und es fallen mir immer noch zuerst ›bockig‹ und ›verstockt‹ ein, wenn ein Kind verstummt.
    Nachdem Horn die Tür hinter ihnen beiden zugezogen hatte, blieb das Mädchen im Türrahmen stehen wie in einem Bild. Es ließ dabei langsam den Blick durch den Raum schweifen. »Ich habe dich letzte Stunde gefragt, ob du vielleicht schon schwimmen kannst, Katharina«, sagte er, »und dann habe ich mir gedacht, dass doch Winter ist und man sich um diese Zeit mit Schifahren oder Eislaufen beschäftigt und wir beide vielleicht die Einzigen sind, die übers Schwimmen reden.« Etwas huschte über das Gesicht des Mädchens, der Hauch einer mimischen Veränderung, mehr aber auch schon nicht, ganz wie zuletzt.
    »Wenn man übers Schwimmen sprechen möchte, ist es vielleicht klug, zuerst einmal die dicke Jacke und die Pelzstiefel abzulegen.«
    Das Mädchen reagierte nicht.
    »Soll ich dir beim Ausziehen behilflich sein?«
    Raffael Horn sollte ganz offensichtlich nicht, denn Katharina Maywald schlang die Arme um den eigenen Körper, so, als müsse sie sich

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