Die Süße Des Lebens
es war ihm von Anfang an egal gewesen, ob er ›Sparren‹ mit zwei r schrieb oder nicht. Michael war inzwischen Vorarbeiter, zufrieden, anständig bezahlt, und er hatte Gabriele. Sie stellte neben dem Arbeitsplatz den zweiten Glücksfall in Michaels Leben dar, auch wenn Irene das nach wie vor anders zu sehen schien. Sie nimmt es ihr übel, dass er von zu Hause ausgezogen ist, dachte Horn, es ist die uralte Geschichte. Sie selbst hat eine höchst zwiespältige Beziehung zu ihrem schwierigen Sohn und nimmt es der Nebenbuhlerin übel, dass es sich bei ihr anders verhält. Dazu kam, dass eine in Wien geborene Beinahe-Symphonikerin mit einer Bauerstochter aus einem winzigen Dorf im oberen steirischen Ennstal vermutlich von Haus aus wenig anfangen konnte. Die Tatsache, dass die Bauerstochter an der landwirtschaftlichen Fachhochschule der Stadt unterrichtete und ohne Zweifel eine akademische Ausbildung besaß, schien die Angelegenheit eher zu verschärfen. Kuheuter, auch wenn sie akademisch betrachtet werden, und Genueser Cellobögen sind ganz und gar inkompatibel, dachte er. Außerdem war Gabriele um sieben Jahre älter als Michael und das passte Irene auch nicht.
Katharina saß vor dem Bücherregal auf dem Boden und betrachtete abwechselnd ihre geballte rechte Hand und die Buchrücken. Nähme sie sich, was sie möchte, und in der Art, in der sie es möchte, würde sie etwas preisgeben, das ihr wertvoll ist, dachte Horn, anders ausgedrückt: Sie ist Rechtshänderin und ein Wechsel des Faustinhaltes von der einen Hand in die andere kommt offenbar nicht in Frage. Eine gelbe und eine blaue Spielfigur aus einem ›Mensch ärgere dich nicht‹-Spiel, hatte die Mutter gesagt. Er stand auf, ging neben dem Mädchen in die Hocke, nahm einen Packen Bücher aus dem Regal und legte sie nebeneinander auf den Boden. ›In der Nachtküche‹ von Maurice Sendak war darunter, ›Rasmus und der Landstreicher‹ von Astrid Lindgren, ein Winnie-Puuh-Sammelband und zwei Bände aus der ›Geschichten vom Franz‹-Serie von Christine Nöstlinger. Nach einigem Zögern griff Katharina mit der linken Hand an die Bücher, legte fein säuberlich eins auf das andere, zuoberst ›Mein erstes Tierlexikon‹, und schob den Stapel zur Seite. Daraufhin fingerte sie ›Die Geggis‹ von Mira Lobe aus dem Regal, betrachtete den Einband und legte es oben auf den Stoß, ebenso ›Das kleine Gespenst‹ von Otfried Preußler, die Donald-Duck-Bücher 29, 30 und 41, ein Band ›Märchen aus Island‹ mit einem grausigen Troll außen drauf und ›Die Kinder aus Bullerbü‹ von Lindgren. Danach war ein Band ›Deutsche Heldensagen‹ dran, eine gut vierzig Jahre alte Buchgemeinschaft-Donauland-Ausgabe, mit der Horn selbst von seiner Mutter zu Weihnachten beglückt worden war, weil man sich ihrer Ansicht nach als Neunjähriger für Ritter zu interessieren hatte. Horn hatte sich immer eher zur Indianerfraktion gezählt und Tomahawk und Bowiemesser den Vorzug gegeben gegenüber Lanze und Schwert, daher war ihm das Buch nie wirklich ans Herz gewachsen und weggeworfen hatte er es einzig und allein deswegen nicht, weil es sich um ein Geschenk seiner Mutter handelte. Als er schließlich begonnen hatte, kinderpsychiatrisch zu arbeiten, war er froh gewesen, das Buch einem sinnvollen Zweck zuführen zu können und es zugleich aus der Wohnung zu kriegen. Die Buben, die sich für Ritter und ihre Waffen begeisterten, gab es auch im wirklichen Leben und nicht nur in der psychoanalytischen Theorie. Vom Deckel des Buches schwang einem durch einen Schutzeinband aus Klarsichtfolie hindurch ein Ritter in silberner Rüstung sein mächtiges Schwert entgegen, geduckt hinter einen Schild mit nachtblauem Drachen vorne drauf, den Kopf durch einen federbuschgeschmückten Helm mit herabgelassenem Visier geschützt. Katharina strich mit Zeige- und Mittelfinger der linken Hand über die Gestalt, so, als wolle sie den Grad ihrer Realität prüfen, und schob dann das Buch nah an sich heran. Die restlichen Bücher räumte sie alle wieder ins Regal, eins nach dem anderen, konsequent mit der linken Hand. Sie wird das Buch aufschlagen, überlegte Horn, wird feststellen, dass viel Text drin ist, und ich werde sie fragen, ob sie eine so kleine Schrift schon lesen kann. Sie würde den Kopf schütteln und er würde anbieten, ihr vorzulesen. Sie würde in einen Zwiespalt geraten, erstarren, und er würde einfach anfangen, ihr vorzulesen. Die Vorstellung, diesem Mädchen vorzulesen, besaß etwas
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