Die Süße Des Lebens
fragte er sich, welchen Namen die Frau ihrem Sohn wohl geben würde. Er kam auf keine Lösung.
Auf I 22 hatten sie einen Mann aus dem Pensionistenheim in Waiern aufgenommen, der auf Grund seiner massiven Durchblutungsstörungen in den Beinen nicht mehr imstande war, auch nur einen Meter ohne heftige Schmerzen zu gehen. Der Mann war früher Dachdecker gewesen und nach seiner Pensionierung am liebsten durch die Wälder der Umgebung gelaufen. Er hatte nie geraucht, sondern, im Gegenteil, immer versucht, gesund zu leben, und die Gefäßschädigung war letztlich auf eine zu spät erkannte Zuckerkrankheit zurückzuführen. Die Verzweiflung des Mannes war jedenfalls uneingeschränkt nachvollziehbar, ebenso, dass er es vehement ablehnte, ein Antidepressivum zu nehmen. Horn sprach mit ihm über das Sterben der mittleren Gewerbebetriebe in der Region und darüber, wie die Politiker im Laufe der Jahrzehnte von Menschen, die eine Ahnung vom Leben der Bevölkerung hatten, zu seelenlosen Robotern geworden waren. Am Ende fragte er ihn, ob er Sebastian Wilfert gekannt habe, und der Mann erwiderte, nein, direkt gekannt habe er ihn nicht. Dann schaute ihm der Mann kurz ins Gesicht und sagte: »Ihm haben sie den Kopf weggefahren und mir werden sie den Unterschenkel amputieren, vielleicht auch beide. Man weiß nicht, was gerecht ist und was nicht.« Horn meinte, Gerechtigkeit sei eine problematische Kategorie, und der Mann nickte.
Dem Impuls, dem Landesstraßenverwaltungsbeamten im Nebenzimmer einen unangekündigten Kontrollbesuch abzustatten, widerstand Horn mit ein wenig Mühe. Manchmal war es schwierig, kein Sadist zu sein.
Keiner hatte etwas dagegen, als Horn ankündigte, die Visite ganz besonders kurz zu halten. Einerseits waren lediglich fünf von Horns zwölf Betten belegt, andererseits vertrat er die Überzeugung, dass die Mannschaft zu Jahresende ein Recht darauf hatte, auf Sparflamme zu arbeiten. Außerdem hatte Herbert, der früher Koch gewesen war, einen großen Topf Hühnercurry mitgebracht. Darauf freuten sich alle.
Caroline Weber lag völlig entspannt im pharmakogenen Tiefschlaf. Horn hatte angeordnet, ihr zwei Liter Elektrolytlösung zu infundieren, und Verena, die vorsichtigste Schwester im Team, hatte darauf bestanden, per Monitor ihre Vitalfunktionen zu überwachen. Erwartungsgemäß war alles bestens, sechsundsiebzig pro Minute, einhundertfünfzehn zu siebzig, siebenundneunzig Prozent Sauerstoffsättigung. »Was hast du übrigens gemeint, als du an der Tür gesagt hast, ihr Mann sei die Wurzel der Geschichte?«, fragte Lili Brunner. »Es war eher intuitiv«, antwortete Horn, »der Mann tut das Kind in die Frau hinein und damit zugleich etwas Übles. Vielleicht wollte sie kein Kind, vielleicht nicht von diesem Mann.«
»Und du meinst, es ist schwieriger für sie, auf den Mann böse zu sein als auf die Tochter?«
»Oder gefährlicher.«
»Aber er wirkt so harmlos.«
»Das tue ich auch«, sagte Horn.
Benedikt Ley ging es deutlich besser. Er lag auf dem Bett und spielte auf seinem Handy. »Darf ich zu Silvester raus?«, fragte er. Horn nickte. »Wenn du mir versprichst, dass du keine Suchtmittel nimmst.«
Der schmale dunkelhaarige Bursche kniff ein Auge zu. »Sie drücken sich immer so geschwollen aus, Dottore.«
»Ich lege einen gewissen Wert darauf, nicht zu eurer Gesellschaft zu gehören, auch sprachlich nicht.«
Ich kann Vereinnahmungsversuche nicht ausstehen, dachte er, ich kann Marilyn-Manson-T-Shirts nicht ausstehen und ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn er mich ›Dottore‹ nennt.
»O.k., ich werde nichts nehmen.«
Horn schaute ihn zweifelnd an.
»Höchstens ein, zwei Bier. Sekt mag ich sowieso nicht.«
Horn zuckte mit den Schultern. Da er, Benedikt, inzwischen volljährig sei, gebe es keinerlei Handhabe, ihn gegen seinen Willen dazubehalten, das bedeute, wenn er darauf bestehe, könne er augenblicklich gehen. Er müsse lediglich eine Erklärung unterschreiben, dass das gegen ärztliches Anraten geschehe. Der junge Mann schaute einigermaßen verwirrt. »Was heißt das?«
»Das heißt, aus medizinischer Sicht ist die Wahrscheinlichkeit schlimmer Flashbacks übermorgen geringer als morgen, daher ist es vernünftiger, noch zu bleiben. Eine wirklich ernste Gefahr besteht jedoch nicht mehr.«
»Und wer trägt dann die Verantwortung, Dottore?«
»Du trägst die Verantwortung, du ganz allein.«
Benedikt Ley schloss beide Augen. Wie die kleinen Kinder, die meinen, wenn sie niemanden sehen,
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