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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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gibt dort unterhalb der Planken eine kleine Lücke im Gitter. Ich habe keine Ahnung, ob die Leute von der Beobachtungsstation das wissen. Die Blässhühner zum Beispiel passen mit Leichtigkeit durch die Öffnung, die Gänse schon nicht mehr und die Schwäne sind überhaupt viel zu groß.
    Das Stanleymesser hat mir Daniel gegeben. Es ist das mittlere aus einem Dreierset, hat eine feststellbare Ausschiebklinge und einen roten Plastikgriff. Sonderangebot, hat er gesagt, vier neunzig. Trotzdem ist es scharf wie ein teures. Drinnen wimmelt es nur so von Waffen, hat er erzählt. Was man sich vorstellt, nämlich dass dort ein sicherer Ort ist, stimmt überhaupt nicht. »Wenn sie dir eine Messerspitze zwischen die Rippen drücken, lässt du augenblicklich die Hosen runter oder machst den Mund weit auf oder sonst was«, sagt er. Dann zeigt er mir, wie das ist, und er hat recht.
    Es ist egal, ob Ferien sind oder nicht. Wenn Schule ist, sitze ich in der Klasse und kapiere bestimmte Dinge nicht. In den Ferien geht mein Vater am Vormittag fünfmal durch die Wohnung und Daniel bringt mir Sachen bei.
    Das Linienschiff fährt nur von März bis Oktober. Ich stelle mir vor, wie sie beschließen, einen Eisbrecher einzusetzen, damit man auch im Winter nach Mooshaim und Sankt Christoph fahren kann, und ich stelle mir vor, wie zu Silvester alle auf dem See stehen, die Sektgläser in der Hand, und auf das Feuerwerk warten und plötzlich kommt dieses riesige Schiff auf sie zu, mit seinem Stahlpanzer und seinen vielen tausend PS.
    Ich werde den Umhang überwerfen und die Maske aufsetzen, dann bin ich so dunkel, dass ich mich vom Hintergrund nicht abhebe. Ich werde im Schutz der Bäume zum Bootshaus hinübergehen. An der Rückseite werde ich den Kreuzschlitzschraubenzieher mit dem hellen Holzgriff aus dem Rucksack holen und an der Tür den Vorhangschlossbeschlag abschrauben. Da das Bootshaus vier Fenster hat, zwei nach Süden, eins nach Osten, eins nach Westen, wird es im Inneren noch ausreichend hell sein, hat Daniel gesagt. Es werden zwei oder drei Polyesterboote drinnenliegen. Die Enten werden zuerst erschrecken und versuchen, durch die Lücke im Gitter ins Freie zu flüchten, doch sobald ich anfange, sie mit dem Weißbrot zu füttern, werden sie umkehren und herankommen. Ich werde das Stanleymesser und den Fausthammer auf dem Hauptsteg bereitlegen, nahe an der Wasserkante. Enten mögen Weißbrot, hat Daniel gesagt. Außerdem hat er gesagt: Die linke Halsseite ein bisschen mehr. Wenn etwas passiert, macht es nichts; auf dem schwarzen Umhang sieht man keine Flecken.

Dreizehn
    Es läuft sich wie in einem Zimmer. Die Flocken fallen dicht und senkrecht und der Himmel fängt ein paar Armlängen über seinem Kopf an. Es ist vollkommen windstill. Das Rauschen des Katarakts klingt gedämpft von links unten herauf und die Felswand, die sich auf der anderen Seite des Weges senkrecht aufschwingt, verschwindet grau im Nichts. Ab und zu wirft ein Zweig seine Schneelast ab.
    Nummer neun. Die längste von allen.
    They’re selling postcards of the hanging / They’re painting the passports brown.
    Jeden Morgen fährt hier einer der Gemeindebediensteten mit dem Snowcat und zieht in der einen Hälfte des Weges eine Schispur für die Langläufer. Der Rest wird plattgemacht für all jene, die zu Fuß unterwegs sind. Jetzt liegen fünf Zentimeter Neuschnee auf der festgewalzten Unterlage. Das macht das Vorwärtskommen ein wenig mühsam. Trotzdem bewältigt er die langgezogene Steigung, ohne das Tempo zu reduzieren. Die Erlen und Weiden werden dichter. Zwischen ihnen könnte man bei klarem Wetter die blinkenden Schlote des Holzwerkes und ein Stück weiter westlich die Türme der Stiftskirche sehen. So bemerkt er gerade einen Blaumeisenschwarm, der aus den Haselnussbüschen schräg vor ihm auffliegt.
    Die Spuren, die er auf dem Hinweg hinterlassen hat, sind mit Mühe noch auszunehmen, sonst nichts. Seitdem er die Straße verlassen hat, hat er niemanden mehr getroffen. Andere Menschen hätten Angst, allein im Winterwald, am Rande einer Stadt, in der Leuten die Kehle aufgeschlitzt wird. Bei ihm kommt die Angst stets von innen, aus der Kluft, an der es ihn dann auseinanderreißt. Wenn man das erklären möchte, versteht es keiner. Die Menschen sind zu sehr daran gewöhnt, sich mit sich selbst identisch zu fühlen.
    Der Knabe wird sich auf den Schlitten setzen und den Berg hinaufgezogen werden wollen. Die Frau wird es erst verweigern, dann wird sie es doch tun.

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