Die Süße Des Lebens
verschiedenen Gründen ins Kloster, denkt er, manche, weil sie Sicherheit brauchen, manche, weil sie die Vorstellung von vielen Männern auf einem Fleck geil macht, und manche, weil sie ansonsten früher oder später ihre Mutter und ihre Schwester erschlagen würden.
Wilhelm, der an der Pforte sitzt und in einer Motorradzeitschrift liest, sagt ihm, dass der Putztrupp in der Schule die Böden macht und der Schlüssel deshalb nicht am Brett hängt. Er nimmt den Gang nach rechts, läuft bis zum Hauptstiegenhaus, hinauf in den ersten Stock und durch das Mattglastor, das tatsächlich offensteht. Seine Klasse ist die erste nach der Biegung des Ganges. Der scharfe Geruch des Bodenglanzmittels hängt in der Luft.
Er zieht die Tür hinter sich zu. Links an der Wand die dreiundzwanzig Porträtfotos der Kinder, hinten eine Rolltafel mit den Gesetzen der Grundrechnungsarten, eine andere, auf der ein Schulprojekt in Äthiopien vogestellt wird. Er tritt ans Fenster. Vor dem Licht der Scheinwerfer, die den Stiftshof erhellen, wirkt der Schneefall absolut künstlich.
Er setzt sich auf den Lehrertisch, sodass seine Beine vorne hinunterhängen. Auf diese Weise hat er alle im Blick. Unmittelbar vor ihm Lisa, die sich vor vielen Dingen fürchtet, zum Beispiel vor Eichhörnchen und vor dem Turnunterricht. Neben ihr Veronika, die einzige echte Streberin der Klasse. Einige mögen sie trotzdem. Michael Streiter, neben ihm Konstantin, der in der fünften Klasse voraussichtlich drei Meter groß sein wird, Hans-Peter, Leo, Markus, der nie etwas sagt. Ewald, der Cellist, Rudolf, der immer wieder fragt, ob er seine Ratte in den Unterricht mitnehmen darf, Katharina Jordak, die Brüste hat wie eine Achtzehnjährige, die kleine dünne Jaqueline, Jennifer, die sich ständig die Unterarme aufkratzt, Günseli und Leyla, die beiden Türkinnen, Norah, die rothaarige Johanna mit ihrer durchsichtigen Haut, Benedikt, Michael Wantok, den wegen seines rosigen Mondgesichtes alle ›Schweinchen‹ nennen, Katharina Scheffberger, die hyperaktive Annabelle, Björn, der winzige Anatolij aus Georgien, der mehrstellige Multiplikationen im Kopf rechnen kann, und Dominik, der nur mehr einen Arm hat, weil er als Kleinkind in einen Strohhäcksler gegriffen hat. Vor den Ferien haben zwei Schüler gefehlt, Jennifer wegen einer Blinddarmentzündung und Leo, der seine Fähigkeiten beim Snowboardspringen überschätzt und sich eine Rippenprellung zugezogen hatte. In der letzten Stunde haben sie keine Mathematik gemacht, sondern Weihnachtslieder gesungen. Ewald hat auf seinem Cello gespielt und Jaqueline auf der Altblockflöte. Björn ist die ganze Zeit über dagesessen und hat zu Boden geschaut. Die Veränderung war sofort zu merken. Er hat ihn danach zur Seite genommen und gefragt, wie Weihnachten bei ihm zu Hause ablaufen werde. Er hat gesagt: »Daniel ist wieder da«, sonst nichts.
Er denkt an die beiden Jahre, die er Björns Bruder in Religion unterrichtet hat, an die harten kleinen Fäuste, an die feine Narbe links an der Oberlippe und an die leeren Augen, die nur aufblitzten, wenn jemand anderer in der Klasse weinte. Er denkt an die zerfetzten Bücher der Sitznachbarn, an die eingetretene Schranktür und die Erleichterung der Lehrerkollegen, als es dem Direktor gelungen war, die Eltern des Buben dazu zu bewegen, den Sohn aus dem Gymnasium zu nehmen und in die Hauptschule zu stecken. Er denkt schließlich an jenen Morgen, als der Zwölfjährige knapp vor ihn hintritt, ihn von unten ansieht und halblaut sagt: »Pfaffen gehören ans Kreuz genagelt, das sagt mein Vater und ich sage das auch.« Er findet für den Rest der Stunde keinen Faden mehr, hört ein an- und abschwellendes Quietschen in seinem rechten Ohr, und bei den Kindern geht es drunter und drüber.
Lautes Lachen draußen vor der Klasse. Die Leute von der Putzbrigade. Er gleitet vom Tisch, schlüpft aus seinen Schuhen und geht in Socken zur Tür. Er öffnet sie nicht. Unmittelbar neben ihr stellt er sich flach an die Wand. Er bleibt ganz lange dort stehen.
Vierzehn
Madeleine Peyroux. Er hatte den Namen noch nie gehört. Auf dem Coverfoto eine junge Frau in einem bauschigen Kleid, die dalümmelte und trotzig in die Kamera schaute. Eine unmanierierte, etwas rauchige Soul-Stimme, die ihn an Billie Holiday erinnerte. Die Nummer vier war sein Favorit, ganz eindeutig. ›You’re gonna make me lonesome when you go‹. Er hörte die CD inzwischen zum zweiten Mal.
Irene behauptete manchmal, der Stall besitze
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