Die Süße Des Lebens
Unter ihrem Stirnband wird ihr gekräuseltes schwarzes Haar hervorquellen. Auf ihm und auf ihren Schultern wird eine zarte Schicht Schnee liegen. Sie wird den Knaben mit Schneebällen bewerfen. Er wird laut auflachen und rücklings vom Schlitten kippen.
Manchmal hat er das Gefühl, alles an ihm ist künstlich, die Gelenke, die Knochen, die Zähne, die Haut, die Augäpfel. Die Luftröhre wird dann zu einem leuchtend blauen Faltschlauch und die Lungen werden zu zwei halbtransparenten Säcken, die in winzige würfelförmige Kammern unterteilt sind. Vom Gehirn hat er keine Vorstellung. Es ist jedenfalls der Ort, an dem die Gedanken gemacht werden.
Eine frische Spur kreuzt den Weg. Ein Stück Schalenwild, am ehesten eine junge Hirschkuh. Sie hat vermutlich noch nie getragen und sie geht allein. Das kommt vor.
Links schräg unterhalb, am jenseitigen Ufer, das Rafting-Center. Die beiden Einstiegsstege sind dick verschneit. Davor wälzt sich träge der Fluss dahin. Kein Unfall während der gesamten acht Betriebsjahre, weder beim Raften noch beim Canyoning – das tragen sie lautstark vor sich her. Eins der sichersten Outdoor-Unternehmen Europas. Robert ist im letzten Sommer einmal mitgefahren; die vier Kilometer unterhalb der Schnellen, die Standardvariante für Anfänger. Er war danach natürlich begeistert und gab allerhand Pathetisches von sich: ›Eine Erfahrung, die den Horizont erweitert‹, et cetera.
Nach links auf die Fußgängerbrücke. Unter dem Neuschnee sind die Bohlen vereist, er rutscht und flucht. Die Imhofstraße entlang. Das Bräunungsstudio. Ein Mann mit exakt geschnittenem Oberlippenbart tritt auf die Straße. Die Betreiberin des Studios ist eine hellblonde Slowakin, von der es heißt, sie sei früher ein bekanntes Fotomodell gewesen. Dann habe sie ein aufdringlicher Fan mit einem Eispickel attackiert und sie sei von einem Tag auf den anderen auf und davon.
Oben auf der Friedhofsmauer streiten zwei Krähen um etwas, das aussieht wie ein Stück Fell. Sie bewegen sich in eigenartiger Symmetrie aufeinander zu, dann voneinander weg, dann wieder aufeinander zu. Sie geben dabei keinen Laut von sich. Ab und zu stiebt Schnee auf.
Seine Lieblingsstelle: Across the street they’ve nailed the curtains / They’re getting ready for the feast / The Phantom of the Opera / A perfect image of a priest. Casanova wird mit Worten vergiftet, T.S. Eliot und Ezra Pound kämpfen auf der Kommandobrücke der Titanic, und dann Schluss. Mehr als elf Minuten. Er greift an den Hosenbund und stellt den iPod ab.
Der alte Wilfert ist freigegeben. Nachdem die Sache entsprechend Wellen geschlagen hat, werden zum Begräbnis viele Leute kommen, vielleicht auch das Fernsehen. Clemens wird sich die Leitung der Feier nicht nehmen lassen. Er wird tröstliche Worte finden und Augustinus zitieren, wie immer, und am nächsten Tag wird alles in der Zeitung stehen.
Nach Westen in die Weyrer Straße. Das Scheinwerferlicht der Autos tastet sich den Boden entlang durch den Schneefall. Kurt Neulinger, der EDV-Leiter der Bezirkshauptmannschaft, räumt mit einer Motorfräse seine Garagenzufahrt. Seitdem es heißt, seine Frau hole sich ab und zu einen Studenten in die Wohnung, kommt er früher nach Hause und alles ist noch ordentlicher als sonst. Obwohl er wirkt, als würde er frieren, trägt er beim Schieben der Fräse keine Handschuhe. Das Gerät macht einen Höllenlärm. In der Nacht, in der Sebastian Wilfert starb, war auch etwas mit einem Geräusch; das fällt ihm ein.
Er biegt nach links in die Orangerie-Straße ein, läuft etwa zweihundert Meter die Mauer des Stiftsparks entlang, nimmt dann das östliche Haupttor. Die Thujenkugeln beidseits des Weges, die steinernen Riesen mit den Keulen, die Nymphen in der Mitte des muschelförmigen Brunnenbeckens. Die Glastafeln des Gewächshauses sind über und über mit Eisblumen bedeckt. Nicht einmal ganz oben, wo der Giebel flach ist, scheint der Schnee liegen zu bleiben. Das hat vermutlich mit der warmen Luft zu tun, die innen aufsteigt. Die Vorstellung, wie Clemens mit Sterck, dem Gärtner, durchstolziert, in verborgene Winkel späht und sich die Palmen und Orchideen erklären lässt. Du nimmst einen Stein und noch einen, wirfst mit aller Kraft und triffst sie beide an der Schläfe, unmittelbar vor dem Ohr. Sie fallen um und die Löcher in der Scheibe sind so klein, dass sie keiner bemerkt. Er beschleunigt bis ans Ende des Gewächshauses. Die Kälte brennt in der Luftröhre. Die Leute gehen aus
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