Die Süße Des Lebens
Hauses Nummer vier gebe es zusätzlich einen kleinen Hügel, zwei oder maximal drei Meter hoch, vielleicht Kelleraushub, den man nicht entfernt habe. Diesen Hügel sei ein kleines Mädchen hinaufgestapft und habe eine blaue Rodel hinter sich hergezogen, ein kurzes flaches Einmannmodell. Oben habe sich das Mädchen draufgesetzt und sei den Hügel hinuntergefahren, bis ans Ende des Gartens, was infolge des allgemeinen Gefälles dort möglich sei. Dann habe es kehrtgemacht, sei Garten und Hügel erneut hinaufgestapft und habe versucht, wieder hinunterzufahren, doch sei es diesmal nur bis an den Fuß des Hügels gelangt, denn dort sei plötzlich dieser Mann gestanden. Er habe mit knallrotem Kopf die Fahrt der Kleinen angehalten, brüllend: »Ich habe dir gesagt, du sollst in deinem Zimmer bleiben!«, und ihr mit Schwung die Rodel unter dem Leib weggerissen, sodass sie rücklings in den Schnee gefallen sei. Er habe die blaue Rodel mit beiden Händen genommen, seitlich durch die Luft geschwungen und an einem von zwei T-förmigen Eisenrohrgestellen, die dort zum Wäscheaufhängen aus dem Boden ragten, zerschlagen. Die Trümmer habe er an Ort und Stelle fallen gelassen, er sei auf das weinende Mädchen zugestürzt, habe es hochgehoben und mit ihm das Gleiche gemacht. Er habe die Kleine mit seinen Armen umfasst, unterhalb der Achseln, durch die Luft gewirbelt und ihre Beine gegen dieses Eisenrohr krachen lassen, einfach so, die Unterschenkelvorderseiten, genau genommen. Das Weinen des Kindes habe augenblicklich aufgehört. Es habe einen grauen Anorak mit weißen Eisbären drauf getragen, das sei in diesem Moment deutlich zu sehen gewesen. Sie selbst sei hinter einen Berberitzenstrauch geduckt oben auf der Straße gestanden und habe ihrem Hund, einem kleinen Dackelmischling, das Maul zugehalten. Sie habe Angst gehabt wie selten zuvor in ihrem Leben und habe sich erst wieder gerührt, als der Mann mit dem Kind auf dem Arm im Haus verschwunden gewesen sei. Sie habe die Vorstellung gehabt, er tauche gleich wieder auf, eine Waffe in der Hand, um sich nach Zeugen umzuschauen, und sei davongelaufen. Etwa eine Stunde später sei sie dann zurückgekommen, ohne Hund diesmal, da sie Schuldgefühle geplagt hätten. Die Einsatzfahrzeuge von Rettung und Polizei seien vor dem Haus gestanden, daher habe sie kehrtgemacht, innerlich erfüllt von der Sicherheit, dass auch jemand anderer den Vorfall beobachtet habe. Gestern habe sie von einer Freundin, einer Küchengehilfin im Krankenhaus, erfahren, dass das Mädchen auf der Unfallchirurgie liege, allerdings unter dem Titel ›Autounfall‹, und daher wolle sie jetzt Anzeige gegen diesen Mann erstatten. Sein Name sei Norbert Schmidinger.
Kovacs stellte die Beine breiter. Er spürte, dass er zu wenig geschlafen hatte. Aus der Teeküche tönte Geschirrgeklapper. Er habe sich jetzt einige Notizen gemacht, log er in den Hörer, aber für ein brauchbares Anzeigeprotokoll sei es notwendig, dass sie entweder die Geschichte einer Kollegin noch einmal erzähle, gerade so wie ihm, eins nach dem anderen, oder selbst eine schriftliche Zusammenfassung vorbeibringe. Wenn sie Sorgen wegen der Anonymität habe, solle sie einfach jemand anderen schicken. Die Frau atmete tief auf. Sie habe da bereits etwas geschrieben, sagte sie, es sei so gut wie unterwegs.
Das Leben verlief wie eine Knotenschnur: Über lange Zeit passierte gar nichts, dann wieder alles auf einmal. Kovacs hatte kurz das Bedürfnis, das Telefon gegen die Wand zu knallen. »Es ist die Nachbarin, hundertprozentig«, sagte er laut und Mauritz, der soeben mit der gefüllten Kaffeekanne vorbeikam, fragte: »Welche Nachbarin?«
»Später«, antwortete Kovacs.
Ein Mann, der seinem Kind die Knochen bricht, dachte er – jeder kennt ihn und keiner traut sich etwas zu unternehmen. Seit Jahren waren sie immer wieder mit ihm befasst und seit Jahren war niemand zu einer brauchbaren Aussage gegen ihn zu bewegen. Psychopathen machen Angst, dachte er, egal, ob sie Familienväter sind oder Lehrer oder Politiker. Psychopathen drohen, demütigen und schlagen zu. Vor diesen Dingen haben die Menschen Angst: vor Bedrohung, vor Demütigung und davor, geschlagen zu werden. Angst ist im Kern immer rational.
Während er mit drei Bissen einen Briochezopf vernichtete, erzählte Mauritz davon, wie er am Vortag zuerst Abdrücke von den Reifenspuren genommen und sich dann rings um den Auffindungsort der Leiche durch den Schnee gebuddelt hatte, Quadratmeter für
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