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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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letzten Seiten angelangt und schlug das Buch schließlich mit einem Knall zu. Dann legte sie die Puppe oben auf den Deckel und betrachtete sie für eine Weile. Horn sagte noch, im Winter sei es auf Friedhöfen besonders kalt, es pfeife ein eisiger Wind zwischen den Gräbern, und sie solle daher Schal, Mütze und Wollfäustlinge nicht vergessen. Außerdem wird der Totengräber dortstehen, dachte er, und den Leuten sein Trinkgeldkörbchen hinhalten und die Leute werden hektisch in ihren Geldbörsen kramen und jeder Zweite wird keine passende Münze dabeihaben.
    Katharina schaute ihn plötzlich an und er dachte eine Sekunde lang: Jetzt ist es so weit. Jetzt wird sie sprechen. Sie griff jedoch nach der Puppe, legte ihr die Arme links und rechts eng an den Körper und zog die äußere der beiden Schichten des Tüllkleides hoch, sodass sie Arme, Oberkörper und schließlich auch das Gesicht der Prinzessin bedeckte. Natürlich geht es nach wie vor um Köpfe, dachte Horn, Köpfe müssen bedeckt werden, die Erinnerung an den zerstörten Kopf soll verschwinden. Katharina legte die verhüllte Puppe zurück auf das Buch, hob es mit beiden Händen hoch und schob es vorsichtig in eine Lücke im Bücherregal. Dabei lächelte sie zufrieden. Eine Art Begräbnis, dachte Horn, sie bahrt die Puppe auf und steckt sie in ein Fach.
    »Es wird gehen«, sagte Horn draußen zu Katharinas Mutter, »sie müssen sich keine Sorgen machen.« Luise Maywald bedankte sich. »Wissen Sie, worüber ich froh bin«, sagte sie beim Verabschieden, »darüber, dass wir ihn nicht mehr sehen müssen.« Horn nickte und sagte nichts. Er hatte soeben bemerkt, wie Katharina den Zippverschluss ihrer rechten Jackentasche öffnete, die Hand hineinsteckte und zur Faust geballt wieder herauszog. Die Spielfiguren, dachte er – es ist alles im Lot.
    Horn stand am Fenster. Es schneite immer noch. Selbst auf dem dürren Schilf rings um den Achenabfluss schien der Schnee liegen zu bleiben. Die Felsabbrüche des südseitigen Seeufers waren nicht auszumachen. Er dachte an Irene und Tobias. Sie saß vermutlich im Stall und übte Tschaikowskys Rokoko-Variationen, die sie beim Faschingskonzert des städtischen Symphonieorchesters spielen sollte, und er war vielleicht gerade dabei, sich zu verlieben. Auf Schikursen verliebte man sich, daran konnte er sich erinnern. Man balgte sich untertags im Schnee und abends registrierte man, dass die Mädchen mit frisch gewaschenem Haar zum Essen kamen. Irene hasste Tschaikowsky, doch Rauter, der musikalische Leiter des Orchesters, hatte gemeint, so etwas ziehe beim Publikum und sie dürfe nicht nein sagen. Horn war sicher, dass sie die Sache hervorragend machen und das Stück mit einer aggressiven Leidenschaft spielen würde. Sie sitzt, spielt und dazwischen hat sie Angst, dachte er, und er dachte an Daniel Gasselik, von dem er sich gut vorstellen konnte, dass er Tieren die Kehle durchschnitt und danach den Schädel zertrümmerte. Die Sache mit Wilfert ist ihm noch eine Nummer zu groß, dachte er dann, dafür ist er zu jung. Er schaute sich kurz im Raum um und war froh, dass niemand da war. Ich habe schon wieder die ganze Zeit laut vor mich hin gesprochen, dachte er, unter Garantie.
    Das Elternpaar, das kurze Zeit später zur Beratung kam, langweilte ihn unsäglich. Es war von Anfang an so gewesen. Der Mann arbeitete als Biochemiker bei Veropharm, einer stadtansässigen Arzneimittelfirma, und beschäftigte sich vor allem mit der Erzeugung von Phytotherapeutika; die Frau war Geschäftsführerin eines kleinen Unternehmens für orthopädische Behelfsartikel. Die beiden hatten zwei Kinder, eine vierzehnjährige Tochter und einen elfjährigen Sohn, die seit Jahren erfolglos versuchten, sich mittels verschiedener Symptome gegen die Zwanghaftigkeit und den pädagogischen Ehrgeiz der Eltern zur Wehr zu setzen. Zur Zeit litt der Bub unter einem Räuspertick und das Mädchen ging maximal jeden zweiten Tag zur Schule. Diese Leute sind so bieder, dass es wehtut, dachte er. Sie habe dem Sohn geraten, das Räuspern zu unterdrücken, sobald er es kommen spüre, sagte die Frau, als Horn fragte, welche Strategien die Eltern selbst entwickelt hätten. Zur Tochter sei ihnen nichts eingefallen, gar nichts, sie mache sowieso, was sie wolle, Punkfrisur und Piercings und Pentagrammanhänger und das alles. Hoffentlich macht sie, was sie will, dachte Horn und zugleich stellte er sich vor, wie dieser Knabe nachts in seinem Bett lag, das Phantasiebild der nackten

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