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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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unsicher, denn sie habe nach wie vor nichts gesagt, nicht ein einziges Wort. Womöglich fange sie am Grab an zu brüllen oder sich sonstwie zu gebärden oder sie laufe einfach weg. Vor diesen Dingen habe sie Angst, denn immerhin sei es ihr Vater gewesen, und wenn sie auch innerlich schon Abschied genommen habe und auf den Moment, in dem der Totengräber beginne, die Kurbel zu drehen, vorbereitet sei, wisse sie doch, dass ihr das nahegehen und sie nicht die Nerven haben werde, sich um eine außer sich geratende Tochter zu kümmern. »Bringen Sie es ihr bei«, hatte sie immer wieder gesagt, »bitte bringen Sie es ihr bei!«, und er hatte sich im Stillen gefragt: Was?
    Die Frau trug Schwarz, zum ersten Mal, seit er sie kennen gelernt hatte, einen langen Rock aus Wollstoff und einen sehr locker gestrickten Rollkragenpullover. Der Tag vor der Beerdigung, dachte er – man stimmt sich ein. Dann dachte er an ›Careless Love‹ und die Nummer vier und daran, dass Heidemarie auf Grund ihrer unbewussten Tötungswünsche den Eltern gegenüber depressiv wurde und keiner da war, der auch nur im Traum daran dachte, ihrem Vater die Kehle aufzuschlitzen. Die Welt kannte keine Gerechtigkeit, vor allem nicht in der Frage, wer umgebracht wurde und wer nicht, aber als Arzt durfte man so etwas nicht einmal denken.
    Katharina hatte den gelben Spielzeugcontainer neben sich stehen, dessen Inhalt den Kindern das Warten erträglicher machen sollte. Auf dem niedrigen Tischchen vor ihr lag auf dem Rücken eine Prinzessinnenpuppe in einem rosa Tüllkleid. Sie hatte begonnen, am Kopfende der Puppe aus allem Möglichen einen bogenförmigen Wall zu errichten, aus Bauklötzen, aus Playmobil-Bäumen und aus Puppengeschirr. Es geht immer noch um Köpfe, dachte Horn. Zugleich fiel ihm etwas auf, ganz am Rande seines Bewusstseins, und tauchte gleich wieder weg. Er kriegte es nicht zu fassen, das ärgerte ihn.
    »Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Luise Maywald. »Es klang so, als hätten Sie es notwendig«, antwortete Horn. Er war froh, dass sie ihn nicht mehr bat, dem Mädchen irgendetwas beizubringen. Sie nickte. »Es ist alles ein bisschen viel für uns.« Das spielt vielleicht auch eine Rolle, dachte er – sie ist um nichts weniger gehemmt als ihre Tochter. Ihr Vater wird auf grauenhafte Weise umgebracht und sie sagt: Es ist alles ein bisschen viel für uns. Sie wirkt wie eine kräftige Frau und ist in Wahrheit in erster Linie gepanzert.
    Katharina ergriff die Prinzessinenpuppe an den Beinen und nahm sie in Horns Zimmer mit. Sie schlüpfte unmittelbar hinter der Tür aus den Stiefeln. Die Dinge verändern sich, dachte Horn zufrieden, sie schlüpft aus den Stiefeln und sie lässt die grüne Eichhörnchenjacke bei der Mutter. Sie ging vor dem Bücherregal in die Knie, an dem Platz, an dem sie sich während der vergangenen Therapiestunden die meiste Zeit aufgehalten hatte, hockte sich auf die Fersen und legte die Puppe vor sich auf den Boden. Sie schaute sie an, drehte sie dann langsam um die Längsachse, befingerte dabei ausführlich Krönchen und Tüllkleid. In diesem Moment wusste Horn, was zuvor seinem Bewusstsein entgangen war: Die Faust war weg. Das Mädchen benützte beide Hände. Irgendwo hatte es die zwei Spielfiguren abgelegt. Es sind nur noch wenige Schritte, bis sie wieder spricht, dachte er. Möglicherweise hatte es tatsächlich mit dem bevorstehenden Begräbnis zu tun.
    Horn holte zwei Schachteln Lego aus dem Schrank, außerdem eine große Lego-Bodenplatte, auf die schematisch ein Teich, ein Fluss und eine Straße gemalt waren. »Draußen hast du begonnen, etwas um die Puppe herumzubauen. Ich habe mir gedacht, du willst das vielleicht weitermachen«, sagte er. Sie knickte die Puppe in der Hüfte ab, setzte sie ans Regal und zupfte ihr das Kleid zurecht. Manche Kinder, denen es so schlecht ging, dass sie nicht mehr imstande waren zu spielen, begannen an einem bestimmten Punkt der Therapie ›spielen‹ zu spielen, das fiel ihm dazu ein. »Willst du einen Kamm für deine Puppe?«, fragte er. Sie reagierte nicht.
    Als er selbst ein Kind gewesen war, hatte es die normalen Legosteine gegeben, in den immer noch üblichen Größen, außerdem Fenster, Türen, Dachsteine, Räder und Zäune, Bodenplatten nur klein, maximal dreißig mal dreißig. Infolgedessen hatte man in erster Linie Häuser oder Autos gebaut, eventuell Züge, wenn man viele Radelemente besessen hatte, auf keinen Fall Raumschiffe, U-Boote oder ganze Fußballstadien,

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