Die Süße Des Lebens
er.
Die Tür der Hütte war aus den Angeln gehoben, das kleine quadratische Fenster eingeschlagen. An einer der beiden Längsseiten war die Holzbeplankung bis auf zwei schmale Bretter heruntergerissen. Fux deutete zur Hinterseite. »Das Eigentliche ist dort«, sagte er.
In der Sekunde, als sie um die Ecke gebogen waren, schaute Kovacs zu Sabine Wieck hinüber. Manchmal verhalten sich die Leute wie im Film, dachte er. Sie stand mit weit aufgerissenen Augen da und hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. Die Schneefläche vor ihnen war schwarz von toten Bienen. Mittendrin erstreckte sich in der Breite eines knappen Meters ein Streifen zersplitterten Holzes, dessen bunte Lackierung man dort und da noch ausnehmen konnte. »Bei diesen Temperaturen erfrieren sie sofort«, sagte Joachim Fux. Ludwig Kovacs schlüpfte aus den Handschuhen, bückte sich, hob eine der Bienen auf und legte sie sich auf die Handfläche. Er hielt sie sich vors Gesicht, bekam sie in einer Entfernung von gut einem halben Meter scharf und betrachtete die Facettenaugen, den Stachel und die feine Äderung der Flügel. »Wie viele waren es?«, fragte er schließlich. Fux starrte ihn an. »Hunderttausende«, sagte er.
Kovacs legte die Biene in den Schnee zurück, behutsam, als lebe sie noch. Sabine Wieck beugte sich zu ihm. »Sechzehn«, flüsterte sie, »sechzehn Kästen, wenn ich mich nicht verzählt habe.«
Der Täter musste mit einer unglaublichen Gründlichkeit ans Werk gegangen sein. Er hatte die Bienenkästen in einer Reihe aufgestellt und dann zertrümmert, einen nach dem anderen. Dem Erdboden gleichgemacht, dachte Kovacs, so sagt man doch, und er dachte an einen riesigen Vorschlaghammer, der da auf die Holzkuben niedersauste. »Wer macht so etwas?«, fragte Sabine Wieck, »wer bringt Bienen um?« Wer Katzen und Stockenten den Hals durchschneidet, hat mit Sicherheit kein Problem damit, dachte Kovacs und er hatte keine Ahnung, warum sie ständig fragte: Wer macht so etwas?, und warum ihn die Art und Weise, in der sie das fragte, so froh stimmte. »Ein Mensch, der ein Problem mit der Süße des Lebens hat, macht so etwas«, sagte er und wunderte sich im selben Augenblick darüber, da er ansonsten mit derart pathetischer Metaphorik nichts am Hut hatte. Fux warf ihm einen Blick zu und es schien, als habe er Tränen in den Augen; vielleicht war es aber auch nur die Kälte.
Kovacs nahm die Kamera aus der Umhängetasche und begann zu fotografieren: die zerstörten Bienenstöcke, die Hütte, die Umgebung. Als er das Objektiv auf den Boden richtete, sagte Fux: »Er muss mit einem Traktor gekommen sein oder mit einem LKW.« Kovacs setzte die Kamera ab. »Warum?«, fragte er. Im nächsten Augenblick wusste er es, sah diese Scheunenrampe vor sich mit dem alten Mann, dessen Nacken genau auf dem Knick lag, und Lipp, der sagte: »Wie ein Gekreuzigter«, und zugleich ging Sabine Wieck in die Knie und strich mit den Fingern vorsichtig über das grobe Reifenprofil, dessen Abdruck vor ihren Füßen im Schnee sichtbar war. »Wir müssen Mauritz holen«, sagte sie, Fux sagte: »Diese Spur hat mit Mosers Traktor nichts zu tun«, und Ludwig Kovacs merkte, wie ihm ein Fundament unter den Füßen wegbrach. Mensch und Tier, fiel ihm ein, diese stehende Wendung, über die keiner nachdenkt, und: Man kann nicht Millionen Bienen die Köpfe zerdrücken.
Sabine Wieck telefonierte mit Mauritz. Sie erklärte ihm die Sachlage, beschrieb ihm den Weg und ersuchte ihn auf Kovacs’ Wink, er solle Pflöcke mitnehmen und ein Werkzeug zum Einschlagen. Am Schluss hob sie prüfend den Kopf und sagte: »Ja, es ist sehr kalt.« »Friert er wieder einmal prophylaktisch?«, fragte Kovacs. Sie lachte.
Die Reifenspuren waren stellenweise von Bienen komplett zugedeckt. In jenen Bereichen, in denen sie freilagen, erschienen die Kanten gebrochen und die Oberfläche ein wenig aufgeraut. Ob es über Nacht einen Hauch draufgeschneit hatte oder ob die Veränderungen durch den Frost passiert waren, war nicht mehr zu entscheiden. Das Reifenprofil würde man jedenfalls perfekt abnehmen können, das war die Hauptsache. »Es ist dasselbe«, sagte Kovacs, so leise, dass die anderen es nicht hörten.
Sie vermieden es, den Kernbereich der Zerstörung zu betreten, und gingen am Rand auf und ab. Sabine Wieck blies immer wieder Luft in ihre Handschuhe und machte Kniebeugen, um sich warmzuhalten. Sie unterhielt sich dabei mit Fux über Bienenhaltung, über verschiedene Honigarten und den Boom um das Gelee
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