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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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wie es jetzt möglich war. »Ich habe als Kind auch Lego gespielt«, sagte er. Sie schaute ihn an. »Spielen wir?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
    Wegen solcher Momente machst du Psychotherapie, dachte er: weil da ein kleines Mädchen ist, das die ganze Zeit nichts spricht und durch den Tag geht wie unter einer Glasglocke, und irgendwann einmal fragst du: Spielen wir?, und plötzlich schüttelt es den Kopf. Er setzte sich Katharina gegenüber auf den Boden, nahm eine der beiden Lego-Schachteln und leerte sie aus. »Bauen wir etwas?«, fragte er. Sie zog die Beine an die Brust. »Ich baue etwas«, sagte er. Nimm die Hemmung in dich hinein, dachte er, tu, was das Kind noch nicht tun kann.
    Michael hatte Lego von Anfang an gehasst. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er, Horn, begriffen hatte, dass es so war, und in Wahrheit war es ihm, der Lego immer geliebt hatte, völlig unbegreiflich gewesen. Er hatte es mit Michaels Legasthenie in Verbindung gebracht und geglaubt, er verstehe die Bauanleitungen nicht oder er habe insgesamt ein schlechtes räumliches Vorstellungsvermögen; beides stellte sich als falsch heraus. Michael mochte Lego einfach nicht, basta, und er schien nicht im Traum daran zu denken, sich dieselben Vorlieben zuzulegen wie sein Vater.
    Horn begann eine Mauer zu errichten, gerade und ohne Schnörksel. Er verwendete nur die gelben und grünen Steine, abwechselnd – einen gelben, einen grünen. Daneben sprach er von Begräbnissen. Er erzählte von Feuer- und Erdbestattung, davon, dass Letztere hierzulande bei weitem überwiege, da es für die Menschen anscheinend eine beunruhigende Vorstellung sei, dass der eigene Körper verbrannt werde, wohingegen man das Liegen im Grab offenbar ähnlich empfinde wie das Liegen im Bett. Daher gebe es auf Friedhöfen auch dieses Ruhegebot – einerseits wisse man natürlich, dass die Menschen in den Gräbern tot seien, zugleich scheine man sich aber die Idee vom großen Schlaf gemeinschaftlich erhalten zu wollen. »Das Loch gräbt der Totengräber mit einem kleinen Bagger«, sagte er. Katharina schaute an ihm vorbei. Die Prinzessinnenpuppe lag rechts neben ihr. Sie hatte die Hand um ihren Körper geschlossen. Hört sie mir zu?, fragte er sich. Er stellte sich vor, wie sie ins zerstörte Gesicht des Großvaters schaute und wie sie am Grab stand, die Puppe in der Hand, und Angst davor hatte, sie könne hineinfallen. Er setzte die letzten Steine auf; am Schluss gab es nur noch grüne. Die Mauer war sieben Reihen hoch. Von der achten stand ein kurzer Anfang, sonst nichts. »Fertig«, sagte er, und dann fragte er sie, ohne auf eine Reaktion zu warten: »Wo sind eigentlich deine beiden Stöpsel geblieben?«
    Katharina schaute eine Weile herum, so, als seien die Spielfiguren irgendwo im Raum verborgen, dann schob sie sich im Sitzen ans Bücherregal heran und zog den Heldensagen-Band hervor. Nicht schon wieder!, dachte er. Er wusste, was kommen würde: endloses Geblättere, von einem Bild zum anderen, und auf jeden Ritterkopf mit herabgelassenem Visier würde sie eine halbe Minute lang den Finger legen. Sie ist mir abhanden gekommen, dachte er, für den Bruchteil einer Sekunde war sie im Kontakt und jetzt ist sie wieder weg. Er redete darüber, dass beim Begräbnis alle traurig sein würden, und einige würden weinen, die Mutter, der Vater, die Schwester, der Bruder. Der Sarg würde ziemlich groß aussehen, beinahe wie ein Haus, mit einem Blumenkranz oben drauf, und drumherum würden viele Kränze liegen. Es würden Reden gehalten werden, man würde Lieder singen und irgendwann würde jemand ein Zeichen geben und ein anderer würde an die Kurbel treten und zu drehen beginnen und der Sarg würde langsam in das Loch hinunterfahren, das der kleine Bagger gegraben habe.
    Während Raffael Horn vor sich hin sprach, war Katharina zirka bei der zwanzigsten Illustration angelangt. Gegen seine Erwartung war sie beim Durchblättern des Buches immer schneller geworden. Sie schlug die Bilder auf, tippte mit der Fingerkuppe die Ritterköpfe an, warf jeweils einen raschen Blick auf die Puppe, als wolle sie sich irgendeiner Sache vergewissern, und blätterte weiter. Am Ende lasse ein jeder eine Blume ins Grab fallen, direkt auf den Sargdeckel, sagte Horn, wie ein letztes Lebewohl. Und dann geht man ins Gasthaus, dachte er, und im selben Moment fragte er sich, ob er das jetzt laut ausgesprochen hatte oder nicht. Katharina schaute jedenfalls nicht auf. Sie war in rasendem Tempo bei den

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