Die Süße Des Lebens
die er sich von einem der Mechaniker der väterlichen Firma genommen hatte, durch die Stadt gefahren, erst den See entlang, dann die Fürstenaustraße hinauf zur Walzwerksiedlung. Dort hatte er vor einem zehnjährigen türkischen Buben, der die Straße überquert hatte, bremsen müssen, war jäh stehen geblieben, hatte die Vespa abgestellt, den Buben verfolgt und ihn unmittelbar neben einem langen Brunnenbecken mit einem Tritt gegen den Brustkorb niedergestreckt. Als der Knabe an den Beckenrand gegriffen hatte, um sich hochzuziehen, hatte Gasselik gesagt, wenn er die Hand nicht augenblicklich neben sich auf den Boden lege, so, als sei er tot, werde er ihm den Arm brechen. Der Bub hatte nicht reagiert, sondern weinend weiterhin versucht, sich aufzurichten, und Gasselik war ihm daraufhin mit beiden Beinen auf den Unterarm gesprungen. Dabei habe er einen Laut ausgestoßen, der geklungen habe wie ein asiatischer Kampfschrei; so hatten nachher die Zeugen berichtet.
Das Verfahren war sehr rasch abgewickelt worden. Gasseliks Vater habe noch bei der Hauptverhandlung gesagt, wenn ihm ein Kanake im Weg sei, bekomme er das auch zu spüren, erzählte man, und Daniel Gasselik selbst habe vor allem geschwiegen und gegrinst. Die Idee der nervenärztlichen Untersuchung stammte von Gasseliks Anwalt, der gemeint hatte, vielleicht finde man einen Fehler im cerebralen Räderwerk seines Mandanten oder ein kleines Trauma und könne die Sache dann strafmildernd geltend machen. Auf Horn zu stoßen, war dann nicht weiter schwer gewesen, denn abgesehen von der Tatsache, dass er Gasselik schon kannte, war er der einzige ausgebildete Jugendpsychiater weit und breit; daher hatte er auch keine Chance gehabt, sich dem Auftrag zu entziehen. Am Ende hatte er jedenfalls ein betont neutrales Gutachten geschrieben, in dem er einerseits die völlig fehlende emotionale Bindung an die Eltern als psychodynamisches Grundelement von Daniel Gasseliks Persönlichkeitsstörung herausstrich, andererseits betonte, dass das nicht im Sinne einer reduzierten Einsichts- und Urteilsfähigkeit zu werten sei. Gasselik war, nicht zuletzt auf Grund zweier Vorstrafen wegen Diebstahls und versuchten Raubes, zu drei Jahren Haft verurteilt worden, davon zu neun Monaten unbedingt, wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, wie es hieß, und alle hatten das ziemlich in Ordnung gefunden. Sogar Konrad Seihs, der Sekretär der WP, hatte in einem Zeitungsinterview gesagt: »In unserer Stadt bricht man niemandem die Arme, auch Türken nicht.«
Direkt neben dem Richtungspfeil zum Krankenhaus steckte ein hellgrauer Kombi, der die Abbiegung offenbar zu rasch genommen hatte, mit dem Heck in einem Schneehaufen. Das Auto verschmolz optisch völlig mit der Umgebung und da der Wind das Pannendreieck permanent umwarf, stand der Lenker da und machte durch Winken die anderen Fahrzeuge auf das Hindernis aufmerksam. Horn ging vorüber, ohne zu fragen, ob er helfen könne. Der Mann hatte mit Sicherheit längst den Abschleppdienst verständigt und das Einzige, das Horn wirklich interessierte, war, ob der Wagen Sommerreifen aufgesteckt hatte oder nicht. Ich bin genauso ein Psychopath wie die anderen, dachte er.
Am Eingang der Kinderstation war Magdalena, die rothaarige Schwester mit dem Oberlippenpiercing, damit beschäftigt, einem heftig weinenden, vielleicht sechsjährigen Mädchen zu erklären, dass die Besuchszeit noch gar nicht begonnen habe und die Eltern mit Sicherheit bald kommen würden. Die Kleine schien ihr das nicht zu glauben und als sich Horn im Vorbeigehen hinabbeugte und sagte: »Schönen Gruß von meiner Katze«, veränderte das auch nichts. Magdalena zuckte mit den Schultern, lächelte ein wenig resignativ und deutete ans andere Ende der Station. »Ihre beiden Damen sind schon da«, sagte sie.
Luise Maywald hatte am Vortag angerufen und um eine zusätzliche Stunde für Katharina gebeten. Im Gegensatz zu sonst hatte sie ziemlich wirr und aufgelöst geklungen und Horn hatte einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass das bevorstehende Begräbnis ihres Vaters der Grund dafür war. Mit den beiden großen Kindern werde das schon gehen, hatte sie gesagt, ihnen sei klar, was passiert sei, ein böser Mensch, habe man ihnen gesagt, es gibt solche Menschen, die kommen irgendwo vorbei und töten jemanden, und über die ganze Angelegenheit mit Blasmusik und Sarg runterlassen und Blumen nachwerfen habe sie ausführlich mit ihnen gesprochen. Bei Katharina hingegen sei sie vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher