Die Süße Des Lebens
ihn, wie er die Nacht überstanden habe, und der Mann sagte, es sei schon gegangen, seine Frau sei ihm eine große Stütze gewesen und für den Notfall habe er verschiedene Beruhigungsmittel im Arzneischrank.
Ab Kilometer zwei komma sechs des Tunnels begann die Straße zu fallen und kurz danach sah man in einiger Entfernung als weißen Punkt das Ausfahrtsportal. »Manchmal im Leben brechen Dinge über einen herein und man ist nicht vorbereitet«, sagte der Mann. Und manchmal im Leben bricht gar nichts über einen herein und darauf ist man auch nicht vorbereitet, dachte Kovacs. Er nahm die Kehren nach Sankt Christoph hinunter in relativ hohem Tempo und genoss an den Scheitelpunkten das Gefühl, im nächsten Augenblick über die Dächer der Gasthöfe und Hotels hinauszufliegen. Unten murmelte er eine Entschuldigung, erhielt aber von den beiden anderen keine Antwort.
Sie nahmen einen Schleichweg südlich ums Zentrum von Sankt Christoph herum und vermieden es auf diese Weise, im Zubringerverkehr, der um diese Tageszeit regelmäßig die schmalen Straßen verstopfte, hängen zu bleiben. Eine Pferdekutsche mit dick vermummten Touristen hielt sie trotzdem auf. Kovacs fluchte leise. Nachdem er überholt hatte, wandte er den Kopf nach hinten. »Pferde?«, fragte er. Sabine Wieck überlegte eine Weile. »Nein, Pferde nicht«, sagte sie schließlich. Sie ist nicht hundertprozentig sicher, dachte er.
Sie folgten der Uferstraße in Richtung Mooshaim bis zu einem flachen Taleinschnitt, der sich von links herabsenkte. Bei dem Schild ›Ferienwohnungen‹ bogen sie in eine Forststraße ab. Sie führte in einer lang ansteigenden Schleife zurück auf einen Hügel direkt oberhalb von Sankt Christoph. Etwa fünfhundert Meter vor einem Bauernhof wies Joachim Fux ihn an, das Auto neben einem quaderförmigen Stoß aus Buchenscheiten abzustellen. »Hier beginnt der Weg«, sagte er. Als sie ausstiegen, sah Ludwig Kovacs, wie der Mann zitterte. »Sind Sie sicher, dass Sie es aushalten?«, fragte er. Fux nickte. Sabine Wieck trat von hinten an ihn heran und fasste ihn am Unterarm. Sie lächelte. »Ich fange Sie schon auf, wenn Sie umkippen«, sagte sie.
Es war klirrend kalt. Ludwig Kovacs schlüpfte in die Handschuhe und stellte den wattierten Kragen seiner Jacke hoch. Sabine Wieck stopfte ihre Cordhose oben in die Stiefel. Joachim Fux hatte eine neue schwarze Wollmütze mit Ohrenklappen aufgesetzt. Sein Mantel hingegen wirkte alt, die Knöpfe waren abgewetzt und am linken Ärmel hatte er einen Riss. Kovacs registrierte das, nachdem er die Umhängetasche mit Kamera, Signalband und Diktiergerät aus dem Wagen geholt hatte. Pflöcke, dachte er, wir haben weder Pflöcke dabei noch ein Werkzeug zum Einschlagen; es ist wie immer. Er sagte nichts.
Solange der Weg über freie Wiesen führte, war er komplett zugeweht. Er gehe hier immer zu Fuß, sagte Fux, weiter als bis zum Holzstoß traue er sich mit seinem Astra nicht, auch nicht mit Ketten, und für einen Allrad werde es in diesem Leben nicht mehr reichen. Sie marschierten hintereinander, Fux voran, bis sie am Waldrand eine dichte Hecke aus Schlehdorn- und Haselnussbüschen erreichten. In ihrem Lee hielten sie an. Christoph Moser, dem der Wald ringsherum gehöre, habe beim Abtransport einiger Lärchenstämme die Sache entdeckt und ihn verständigt. »Er war mit seinem großen SAME-Traktor und einem vierrädrigen Anhänger unterwegs«, sagte Fux und deutete auf die tiefen Radeinschnitte zu seinen Füßen. Holz schlägert man im Winter, dachte Kovacs, die Leute halten sich immer noch an die alten Regeln.
»Wann hat Moser angerufen?«, fragte Sabine Wieck.
»Um zehn nach zwei«, sagte Fux, »aus der Traktorkabine. Er hat immer ein Mobiltelefon bei sich, wenn er in den Wald fährt.«
»Und wann waren Sie dort?«
»Um halb vier.« Fux stand da und hob die Schultern. »Anfangs wollte ich gar nicht hinfahren«, sagte er.
Sie marschierten durch den lockeren Lärchenwald leicht bergan, überquerten einen felsigen Graben und wandten sich nach einer Wildfütterungsstelle nach Osten. Die Vormittagssonne blendete ein wenig, als sie auf die Lichtung hinaustraten. Fux blieb stehen und strich sich mit beiden Händen über die Wangen. »Ist es da vorne?«, fragte Sabine Wieck. Fux nickte. »Schaffen Sie es?« Er starrte wortlos auf die Schneefläche hinaus. Kovacs schob sich schließlich an ihm vorbei. »Ich schaue einmal.« Fux fasste ihn am Arm und schüttelte den Kopf. »Es wird schon gehen«, sagte
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