Die Süße Des Lebens
home.
Durch den vorderen Hof hinaus in die breite Hauptzufahrt. Gegenüber der Rathausplatz. Unter den Kastanien einige hohe Altschneeberge. Links ab in die Stiftsallee, die Südfront des Klosters entlang. Eine Zeit lang läutet die kleinste der Glocken.
Er hat das alles Clemens zu verdanken. Eine akut einberufene Äbte- und Priorenkonferenz der gesamten Diözese, hat er behauptet, vor allem wegen der Schwierigkeiten mit dem neuen Bischof. Er könne unmöglich fernbleiben. Robert hat Verpflichtungen in seiner Pfarre und Jeremiah befindet sich nach einer Hüftoperation auf Rehabilitation. Plötzlich gab es keine Alternative.
Der junge Polizist, der an der Abzweigung der Abt-Karl-Straße den Verkehr regelt, salutiert, als er vorübergeht. Er salutiert zurück.
Die Abt-Karl-Straße entlang, ab in die Weyrer Straße, schnurgerade auf den Friedhof zu. Das schmiedeeiserne Tor steht weit offen.
Einen Stöpsel. Den linken.
Because something is happening here / But you don’t know what it is / Do you, Mister Jones?
Sämtliche Wege des Friedhofs sind optimal geräumt, die meisten sogar mit Kies bestreut. Weinstabel hat ganze Arbeit geleistet. Der Totengräber steht vor dem Gerätehaus, klein und hager, in einem dunkelgrauen Lodenmantel, die Pelzkappe in der Hand, den Blick gesenkt.
Das Grab liegt am Ostende des Friedhofs, in der vorletzten Reihe, etwas erhöht, sodass man einen guten Überblick hat. Insgesamt befinden sich dreihundertelf Menschen innerhalb der Mauern, siebenundzwanzig von ihnen unmittelbar am Grab, etwas seitlich davon die Jagdhornbläser, auf dem breiten Mittelweg die Repräsentanten der öffentlichen Einrichtungen, unter anderem Steinböck, der Bürgermeister, und Jelusitz, der Bezirkshauptmann, dahinter die Abordnung des Jagdvereines und, rings um eine schwarz-silberne Fahne, eine Hand voll uralter Männer, die Vertreter des Kameradschaftsbundes.
Der Sarg wird auf die Gurten der Absenkvorrichtung gelegt. Auf dem schwarz lackierten Rahmen ist der Name der Herstellerfirma zu lesen: Lovrek. Möglicherweise heißen alle Sargabsenker auf dieser Welt Lovrek, denkt er, und Herr Lovrek ist ein steinreicher Mann.
Er weiß, dass er etwas sagen sollte, doch er spürt, wie ihm jedes Konzept zerfallen ist.
Gnade sei mit euch.
Er gibt den vier Herren der Jagdhornbläsergruppe ein Zeichen und sie spielen einen Choral. Er hat Angst, dass es ihm auch seine Musik zerreißt. Er hält sich die Hand schützend über das linke Ohr.
When someone attacks your imagination.
Die Leute schauen erstaunt, doch ihm ist das egal.
Unmittelbar vor ihm die Tochter und der Schwiegersohn des Toten mit ihren drei Kindern. Eng an der Seite der Mutter die kleinere der beiden Töchter in einer grünen Steppjacke mit Eichhörnchen drauf. Sie hält als Einzige der Familie kein Rosensträußchen in der Hand.
Einer der Bläser hat Probleme mit den hohen Tönen. Vermutlich liegt es an der Kälte. Luise Maywald hat trotzdem Tränen in den Augen. Sie blickt starr in die Ferne, über die Mauer hinweg, auch über die Wipfel des Auwaldes. Ihre linke Wange ist lila verfärbt.
Er weiß, dass er jetzt sprechen sollte. Das Buch Kohelet fällt ihm ein. Er kann die Stelle auswendig. Trotzdem winkt er die Ministrantin heran und tut so, als würde er aus dem Buch lesen.
Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit für die Ernte. Eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz. Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben. Alles hat seine Zeit.
Alle senken die Köpfe. Er weiß, dass er etwas über das Leben des Toten sagen sollte, und er weiß, dass er den Notizzettel hinten im Zeremonienbuch liegen hat, doch zugleich zerteilt es ihn und in mehreren Fragmenten fliegt er irgendwohin.
Er hat drei Leute von der Polizei gezählt: Florian Lipp gleich links vom Tor; an der Abzweigung zum Grab, dort, wo sie den Rollwagen stehen gelassen haben, eine junge Frau mit dunkelblondem Haar und Federbügelohrenschützern, deren Namen er nicht kennt; und an der östlichen Begrenzungswand, unmittelbar hinter seinem Rücken und damit außerhalb seines Blickfeldes, Ludwig Kovacs. Lipp war seinerzeit Schüler in seiner allerersten Mathematikklasse, ein schlanker, dunkelhaariger Knabe, immer besonnen, nie im Vordergrund, keine Eskapaden. Von Kovacs heißt es, er liebe nichts so sehr wie den direkten Weg zur einfachen Erklärung. Er leitete einmal eine Befragung sämtlicher
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