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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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die Küche gegangen. Was bin ich doch für ein Psycho-Trottel, hatte er gedacht.
    Er hatte erst die Katze gefüttert, dann begonnen, das Frühstück zuzubereiten. Orangensaft, Toast, gegrillten Speck. Tobias geht ihr ab und sie hasst Tschaikowsky, hatte er gedacht. Er hatte auf die Uhr geschaut. Das Schumann-Konzert dauerte knapp eine halbe Stunde. Er war wieder hinübergegangen und hatte sie am Anfang des zweiten Satzes unterbrochen. »Der wie vielte Durchlauf ist das?«, hatte er gefragt. Sie hatte vier Finger gehoben. Er hatte sie in den Arm genommen.
    Um zehn nach sechs, während er sich gerade die zweite Tasse Kaffee eingeschenkt hatte, hatte das Telefon geläutet. Clemens, der Abt. Bauer sei in einer eigenartigen Verfassung, das heiße, vor allem am Vortag, beim Begräbnis, sei es offenbar schwierig gewesen. Der Bürgermeister selbst habe ihn angerufen, nicht empört, nein, eher besorgt, man kenne Bauer ja. Er, Clemens, sei verwundert, denn Bauer habe in letzter Zeit einen außerordentlich stabilen Eindruck gemacht, sodass er ihm ohne Zögern diese heikle Feier anvertraut habe. Auch der Schulbeginn nach den Weihnachtsferien sei ohne Probleme vonstatten gegangen und weder aus den Klassen noch aus dem Konferenzzimmer habe es irgendwelche Klagen gegeben.
    Er hatte aufgelegt und dabei Irene zugesehen, wie sie sich einen Löffel Birnengelee aus dem Glas nahm. »Das Spital?«, hatte sie gefragt. Er hatte den Kopf geschüttelt: »Nein. Bauer.« Dann hatte er noch gesagt, ein Benediktinerpater, der spinnt, begräbt einen alten Mann, dem der Schädel zu Brei gemacht wurde, das sei doch etwas Komisches. Irene hatte geschwiegen und er hatte sich gefragt, warum der Abt den Ordensbruder nur ihm, dem Psychiater, gegenüber ›Bauer‹ nannte, obwohl er sonst konsequent ›Pater Joseph‹ sagte. Irene hatte noch eine Weile die Katze gestreichelt und war schließlich aufgestanden. »Brauchst du den Stall?«, hatte sie gefragt und er hatte den Kopf geschüttelt: »Nein, ich setze mich ins Büro.«
    Bauer wirkte in seinen Bewegungen vielleicht eine Spur eckiger als sonst; abgesehen davon fiel Horn nichts auf. Er habe seit etwa einer Woche das Quetiapin auf zweihundertfünfzig Milligramm pro Tag gesteigert, sagte er, und jetzt merke er langsam den Effekt. Er habe wieder einmal dieses Gefühl gehabt, es würden Sprenglöcher in seinen Körper gebohrt und es sei lediglich eine Frage der Zeit, bis es ihn mit einem Riesenknall in tausend Fetzen zerreiße. Ja, natürlich sei er Tag und Nacht gelaufen wie nur was und natürlich habe er seine Musik gehört.
    »Auch während des Begräbnisses?«
    »Ja, auch während des Begräbnisses.«
    Wenn er es genau wissen wolle – er habe Ballad of a Thin Man gehört und, da er annehme, dass das für den Psychiater besonders interessant sei – er habe es deswegen gehört, weil es ein durch und durch paranoides Lied sei und er sich da nicht so allein fühle. Noch ein kleiner Rest von Spannung, dachte Horn, eine leichte projektive Schärfe, die den anderen für das eigene Elend verantwortlich macht. Ansonsten war da nichts Verdächtiges, keine Inkohärenz im Denken, kein Abgleiten, ja nicht einmal der Anflug einer assoziativen Lockerung, kein Stimmenhören, keine Beeinflussungs- oder Fremdsteuerungserlebnisse, keine überwertige Bedeutungsgebung, keine Größenideen. Wenn man nicht wusste, wie rasch Bauer kippen und wie rasch er sich wieder erholen konnte, hätte man Clemens’ Schilderung der Ereignisse des Vortages für pure Erfindung halten können.
    Horn griff Bauer ans Handgelenk und an den Ellbogen und prüfte die passive Beweglichkeit. »Quetiapin macht kein Parkinsonoid«, sagte Bauer.
    »Manchmal doch.«
    Außerdem gehörte es zum nervenärztlichen Ritual und war die einzige Gelegenheit, einen Patienten zu berühren, ohne sich verdächtig zu machen. Horn sagte diesbezüglich nichts. »Ist dir bei der Beerdigung irgendetwas aufgefallen?«, fragte er. Bauer dachte nach. »Ja«, sagte er schließlich, »dass die Firma, die die Sargabsenker herstellt, Lovrek heißt. Das habe ich gestern zum ersten Mal registriert.« Die überscharfe Realitätskontrolle des Psychotikers, dachte Horn, zugleich, dass man als Psychiater mit der Zeit offenbar begann, die Menschen in einer höchst eigenartigen Weise wahrzunehmen. Außerdem dachte er, dass ›Sargabsenker‹ ein wunderbares Wort war.
    Bauer sprach davon, wie schwierig es war, Eindrücke aus einer Phase wiederzugeben, in der einen die Gewissheit

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