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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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dominierte, sich früher oder später in Einzelteile aufzulösen, davon, wie die Angst in Wellen daherbrandete und wie bruchstückhaft Wahrnehmung und Einordnung der Dinge stattfanden. »Jagdhornbläser«, sagte er, »vier Stück. Der Bürgermeister, der den Mund auf und zu macht, und nichts von dem, was er sagt, dringt an dein Ohr. Eine grüne Jacke mit Eichhörnchen drauf.« »Ausgezeichnet«, sagte Horn und Bauer sah ihn verwirrt an.
    »Ich meine, dass du so viel registriert hast.«
    Horn dachte, dass er selbst nicht die Wahrheit sagte und dabei keine Spur von Schuldgefühl empfand, weil ihn die Zufriedenheit darüber ausfüllte, dass die Kleine dort gewesen und nichts Schreckliches passiert war. Er stellte sie sich vor, wie sie am Grab stand, die Augen auf die Stiefelspitzen gerichtet, eine Hand in jener der Mutter, die andere zur Faust geballt tief in der Jackentasche, drei Schritte von einem Priester entfernt, der wirre Dinge sprach und dem ein weißer Draht aus dem linken Ohr hing. Er war plötzlich sicher, dass sie nach wie vor kein Wort gesagt hatte.
    »Kannst du arbeiten?«, fragte Horn. Ein winziges Grinsen huschte über Bauers Gesicht. »Das ist Clemens’ größte Sorge – dass die Leute in die Messe gehen und nachher über mich reden oder dass ich sage, ich kann unterrichten, und dann beschweren sich die Eltern und behaupten zum Beispiel, ich hätte in der Klasse gesagt: Nichts ist sicher, nicht einmal das Kommutativgesetz der Addition.«
    Nichts ist sicher, dachte Horn, sogar daran gewöhnt man sich. Er erinnerte sich an den Beginn ihrer gemeinsamen Wanderungen, daran, wie er damals Bauers Tempo nicht hatte halten können, und daran, wie er allmählich begriffen hatte, dass das permanente Infragestellen der Dinge keinem Drang nach Destruktion entsprang, sondern dem Bedürfnis, sich in der Welt weiterhin kohärent und mit sich selbst identisch zu fühlen, wie fragmentiert auch immer man die eigene Person gerade wahrnahm. Er erinnerte sich an die ersten Behandlungstermine, an Bauers Misstrauen, an seine eigenen Bemühungen, herauszufinden, was ihn an diesem Mann so anzog, und daran, wie Irene eines Abends gesagt hatte: Wäre ich Psychoanalytikerin, würde ich sagen, es hat mit Homoerotik zu tun, aber Gott sei Dank bin ich keine.
    »Glaubst du, du kannst arbeiten – ja oder nein?«
    »Ich habe schon in ganz anderer Verfassung gearbeitet.«
    Horn versuchte sich Tobias und seine Schulkollegen vorzustellen und wie Bauer vorne in der Klasse stand, die Winkelfunktionen erklärte oder den Schnitt dreier Ebenen im Raum und ab und zu Dinge von sich gab, die nicht dazupassten. Er fragte sich, ob er ihnen auch von der Frau und dem Kind erzählte und wie viel davon sie ihm glaubten. Er selbst hatte ihm anfangs alles abgenommen: die Namen, die Gesichter, das Haus mit dem Garten, der leider etwas schattig lag, die Vorliebe der Frau für skandinavische Literatur, die Neurodermitis-Neigung des Knaben und seinen immer dringenderen Wunsch nach einem kleinen weißen Hund. Nach und nach waren ihm dann Zweifel gekommen. Es hatte nie auch nur die Spur eines realen Kontaktes zwischen Bauer und den beiden gegeben. Außerdem waren die Geschichten durchwegs harmonisch geblieben, ja geradezu idyllisch: kein Unmut, keine Ambivalenz, kein Konflikt. Bauer hatte nur gelächelt, als er ihm erstmals diese Beobachtungen mitgeteilt hatte, und auch später, als er ihm deutlich gesagt hatte, er halte das Ganze für ein ausgefeiltes paranoides Konstrukt, hatte er ihm nicht widersprochen. Gegenüber der Medikation mit Neuroleptika war das Gebilde weitgehend resistent geblieben, was vermutlich einfach vor allem daran lag, dass Bauer es behalten wollte. Das war bei allen höher systematisierten Wahngebäuden so: Die Leute hatten ihren unmittelbaren psychodynamischen Profit davon und sperrten sich dagegen, ihn zu verlieren.
    »Geh auf dreihundert Milligramm«, sagte Horn, »zumindest für die nächsten zwei Wochen.« Bauer nickte. Er macht sowieso, was er will, dachte Horn und in einem gewissen Sinn fand er das auch in Ordnung. Einmal, als er bezüglich des Realitätsgehaltes der Existenz der beiden Personen noch unsicher gewesen war, hatte er ihn gefragt, warum er denn ins Kloster gegangen sei, wenn er zugleich auf Frau und Kind so großen Wert lege. Bauer hatte geantwortet: »Das geht nur mich und meinen Gott etwas an. Mit anderen Worten: Das verstehen Sie nicht.« Sie waren damals noch per Sie gewesen und Bauer hatte in dieser Situation so

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