Die Süße Des Lebens
lange drinnen, bis du sie nicht mehr spürst. Dann habe ich an das Schifahren mit den Eltern gedacht, das immer ziemlich öd ist, weil mein Vater ständig rumbrüllt: Oberkörper vor! oder so, und wenn du es nicht machst, knallt er dir eine, mitten auf der Piste. Am Ende habe ich begonnen, an den Eisplaneten Hoth zu denken, daran, dass dort alles weiß ist und sogar Han Solo, wie er auf dem Tauntaun durch die Schneewüste reitet, eine weiße Daunenjacke trägt. Da habe ich schon absolut null Gefühl in der Hand gehabt. Zur Sicherheit habe ich sie noch eine Minute dringelassen und als ich sie rausgenommen habe, war sie auch ganz weiß. Kein Schmerz mehr und kein Blut, genau wie Wawrovsky gesagt hat, auch wenn es keine Verbrennung ist. Ich habe den Fäustling über die Hand gestreift und das Stanleymesser in den See geworfen. Kein Mensch wird es dort finden.
Jetzt stehe ich hier auf dem Friedhof, an einer Stelle, an der mich niemand sieht, und die Hand meldet sich zurück. Ich denke, es hat weniger damit zu tun, dass ich sie länger im See hätte lassen sollen, sondern vielmehr damit, dass ich den Auftrag nicht ordnungsgemäß durchgeführt habe. Daniel wird mir erzählen, dass sie einem drinnen in so einem Fall die Hand zu Brei zerschlagen. Dann wird er so lange Alkohol auf die Bisswunde leeren, bis ich sage: Ja, es brennt sehr.
In zehn Minuten werden sie kommen, maximal in zwanzig, in einem langen schwarzen Zug, und vor dem vielen Schnee wird das Ganze aussehen wie aus einem alten Film. Ich stelle mir vor, wie ein Ministrant ein Kreuz oben auf einer langen Stange voranträgt und ein anderer ein Weihrauchfass schwingt. Außerdem stelle ich mir vor, wie der Priester irrtümlich fragt, ob jemand anwesend ist, der den Toten noch einmal sehen will, und es steht tatsächlich einer auf und sagt: Ja, und ein anderer nimmt den Kopfteil des Sargdeckels ab, bevor die Übrigen: ›Halt!‹ rufen können. Ich denke, wenn das Loch mit dem toten alten Mann zugeschüttet ist, wird alles vorüber sein und irgendwann später werde ich Daniel fragen, wie er es gemacht hat.
Siebzehn
Das Kirchenschiff steht glasklar vor ihm. Wie ein Eisblock. In ihn eingegossen der Lichtkegel, der aus dem Rosettenfenster in den Raum fällt. Ganz unten die Menschen, mit minimalen Bewegungsspielräumen.
Er vibriert innerlich. Unter dem Brustbein ist es kalt. Der Atem friert in ihm. Er bringt ihn kaum aus sich raus.
Der Herr sei mit euch.
Und mit deinem Geiste.
Manche stehen auf. Manche knien sich hin. Wie immer ein Moment der Verunsicherung.
Es segne euch der dreieinige Gott. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
Am Schluss ›Segne Du, Maria‹. Die Tränenprobe. Wer bei der dritten Strophe nicht heult, hat zum Verstorbenen tatsächlich keine Beziehung gehabt: Segne Du, Maria, unsre letzte Stund! / Süße Trostesworte flüstre dann Dein Mund. / Deine Hand, die linde, drück das Aug uns zu, / Bleib im Tod und Leben unser Segen Du! / Bleib im Tod und Leben unser Segen Du!
Vorne im Mittelgang der Sarg aus hellem Eichenholz, oben drauf der Kranz aus Tannenreisig, Ilex und Buchsbaum, dazwischen Hagebutten und einige dunkle Rosen. Die Schleife schwarz mit schmalem goldenem Rand. ›Ein letzter Gruß. Luise, Ernst, Ursula, Georg, Katharina.‹ Frank, der älteste der Ministranten, nimmt das Vortragekreuz hoch. Er trägt Wollhandschuhe mit abwechselnd einem grauen und einem schwarzen Finger. Der Sarg wird auf den Handwagen gehoben und zum Tor gerollt.
Er greift in den Schlitz des Messhemdes, zieht den Zippverschluss seines Daunengilets hoch, tastet die Seitentaschen ab. Rechts der iPod, links die fingerlosen Handschuhe. Für alle Fälle.
Die Heckklappe des Leichenwagens steht bereits offen. Der Sarg wird die Portaltreppe hinuntergetragen und in den Wagen geschoben. Links und rechts ratlos herumstehende Menschen, wirr durcheinander. Sie kümmern ihn nicht.
Er setzt sich mit den Ministranten an die Spitze des Zuges. Unmittelbar hinter sich hört er das leise Motorengeräusch des Autos. Ich werde schnell gehen. Das ist eins der wenigen Dinge, die er klar denken kann.
Möglicherweise werden sie nicht kommen. Er wird auf dem Bahnsteig stehen und die Arme ausbreiten und keiner wird da sein. Sie werden in ihrem kleinen Haus in dem kleinen Dorf an der Salzach hocken und nicht gekommen sein und er wird sich umdrehen und sich die Stöpsel in die Ohren drücken.
You try so hard / But you don’t understand / Just what you’ll say / When you get
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