Die Süße Des Lebens
Lehrer, als es hieß, im Stiftsgymnasium seien größere Mengen von Kokain im Umlauf. Er war neutral im Ton, untendenziös, in Summe völlig korrekt.
You put your eyes in your pocket / And your nose on the ground.
Eine Bö fegt über den Friedhof, saugt dort und da den Schnee in Form kleiner Windhosen in die Höhe, einen Meter hoch, vielleicht eineinhalb. Er legt sich selbst die Arme um den Leib, um das Messkleid am Auffliegen zu hindern.
You should be made / To wear earphones.
Der Bürgermeister deutet die Pause als Aufforderung, arbeitet sich vor ans Grab und zieht seine Notizen aus der Tasche. Er schaut sich um wie am Beginn einer Wahlkampfrede: Hohe Geistlichkeit! Liebe Familie Maywald! Werte Trauergemeinde! – Gewalt verlangt offizielle Worte. Auf Politiker ist Verlass.
Er sieht sich um. Wären sie hier, würde er es längst wissen. Sophie würde irgendwo im Hintergrund stehen und den Buben zurückhalten, denn eine Umarmung am offenen Grab ginge nicht.
Am rechten Gesichtsfeldrand nimmt er etwas Vertrautes wahr. Er versucht sich zu konzentrieren.
Something is happening here / But you don’t know what it is / Do you, Mister Jones?
Abseits der Menge, auf einem etwas breiteren Weg, sitzt in einem Rollstuhl, fest in Decken eingehüllt, eine Frau. Franziska Zillinger aus dem Altenheim in Waiern. Sie scheint der Ansprache des Bürgermeisters zu lauschen und schüttelt ab und zu den Kopf. Zwischendurch lächelt sie versonnen. Auf die Griffe des Rollstuhles stützt sich ein junger Mann in grauer Jacke, vermutlich ein Zivildiener. Er steigt von einem Fuß auf den anderen und zieht die Schultern hoch.
Der Winkel mit der Wasserentnahmestelle. Die Zypressen. Neunzehn Stück. An der zweiten von rechts steht plötzlich eine zusätzliche Person, so, als sei sie eben erst hinter dem Stamm hervorgetreten. In Summe also dreihundertzwölf. Klein, schmal, dunkle Jacke, blaues Stirnband, vor sich auf dem Boden einen Rucksack. Björn.
Er dreht sich zur Gänze um. Kovacs befindet sich nach wie vor auf seinem Platz. Er lehnt an der Mauer, direkt neben dem Grab von Engelbert Stransky, dem ehemaligen Stiftsorganisten, und schreibt etwas in sein Notizbuch. Er kann nicht beurteilen, ob Kovacs alle Anwesenden registriert hat.
Zu Björn fällt ihm ein: ein Wanderer, der zufällig vorüberkommt. Oder ein Knabe, der in einer Schulklasse nach vorne tritt und etwas an die Tafel schreibt, einen Satz, der dann mittendrin abbricht. Zu Kovacs fällt ihm ein: ›Stattlich und feist‹, und er sieht ihn vor sich, wie er langsam eine Treppe herabsteigt, auf den Armen etwas, von dem er nicht genau erkennt, was es ist. Vielleicht ein Messer.
Introibo ad altare Dei.
Der Bürgermeister zieht sich zurück. Er hat die ganze Zeit von einem unauffälligen Leben im Dienste der Gemeinschaft gesprochen. Nichts als leere Luft.
Introibo ad altare Dei.
Ad Deum, qui laetificat iuventutem meam.
Er tritt ans Grab und beginnt an der Kurbel zu drehen. Lovrek, liest er noch einmal. Einer der Träger fällt ihm in den Arm und flüstert ihm etwas ins Ohr. Er zieht die Hand zurück und lässt ihn gewähren.
Nimm hin, Erde, was dein ist.
Draußen vor dem Tor bellt ein Hund, immer lauter und lauter.
Der Sarg fährt in den Schlund.
Der Punkt, an dem sich die Dinge zu reimen beginnen.
Er presst sich den zweiten Stöpsel ins Ohr.
Achtzehn
Es gab Tage, die begannen besonders früh. Schlaftrunken versuchte man sich zu suggerieren, dass es nichts mit einem selbst zu tun hatte, aber das nützte wenig. Man schaute sich um und es war nichts da, das einen froh stimmte. Außer vielleicht, dass die Katze noch lebte.
Irene hatte nicht mehr schlafen können. Sie hatte sich erst herumgewälzt, dann war sie dagesessen, den Rücken gegen das Betthaupt gestemmt, und hatte in die Finsternis gestarrt. Er war aufgewacht und wieder eingenickt und als er erneut aufgewacht war, war sie weg gewesen. Er hatte sich Jeans und einen Pullover übergezogen und sich auf die Suche gemacht. Sie war im Stall gesessen, in seinem Fauteuil, und hatte das Schumann-Konzert gehört, die Aufnahme mit Jacqueline du Pré. »Bist du traurig?«, hatte er sie gefragt. Sie hatte nicht geantwortet. Er hatte ihren Bugholzstuhl genommen und sich neben sie gesetzt.
»Ist es gut, sich mit dem Unerreichbaren zu konfrontieren, wenn es einem sowieso schlecht geht?«
Sie hatte den Kopf gewandt und ihn kurz angesehen. »Sie spielt das einfach so schön.« Nach einer Weile war er leise aufgestanden und in
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