Die Sumpfloch-Saga Bd. 2 - Dunkelherzen und Sternenstaub
wusste Dinge über Gerald, die sie nicht erzählen durfte. Sie und Geicko hatten es Gerald hoch und heilig versprochen. Gerald war nämlich gar nicht der Sohn von Herrn Winter, dem Geschichtslehrer. Auch Gerald stammte in Wirklichkeit aus einer anderen Welt, nur dass er nicht entführt, sondern auf ganz anständige Weise von seinem Vater mitgenommen worden war, dem es offensichtlich möglich war, die Welten nach Belieben zu wechseln. In Amuylett besaß Geralds Vater ein Schloss und galt als Ritter, was Gerald besonders lustig fand, da es in der Welt, aus der er stammte, schon lange keine Ritter mehr gab. Herr Winter schließlich, der Geschichtslehrer von Sumpfloch, war eigentlich Geralds Privatlehrer. Als Geralds Vater vor vielen Jahren auf die Idee gekommen war, einen Spion aus der Familie in Sumpfloch zu postieren, hatte sich Herr Winter aus Treue (und weil er sehr gut bezahlt wurde) dazu bereit erklärt, als Lehrer nach Sumpfloch zu gehen und Gerald als seinen Sohn auszugeben.
All das hatte Gerald ausgeplaudert, als er mit Lisandra und Geicko unterwegs gewesen war, um Thuna und Maria zu befreien. Er vertraute darauf, dass die beiden ihr Wort hielten, das sie ihm gegeben hatten, und nun fühlte sich Lisandra sehr in der Zwickmühle. Schummeln, Mogeln, Lügen, all das bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Aber ein Ehrenwort – darauf musste man sich verlassen können. Wenn ein Gauner einem anderen Gauner sein Ehrenwort gab, dann galt der Ausnahmezustand: Kein Mogeln, kein Betrügen oder alle Ehre und jede Vertrauenswürdigkeit wären dahin …
„Was weißt du denn über Gerald?“, fragte Lisandra nun. „Hat er dir von seiner Familie erzählt? Wo seine Mutter lebt und so was?“
„Sie starb, als er noch ganz klein war. Herr Winter hat ihn alleine aufgezogen. Deswegen hat er sich auch eine Stelle in einem Internat besorgt, damit Gerald gut aufgehoben ist. Eigentlich hätten sie es nicht nötig, in Sumpfloch zu sein, aber es war damals die einzige Schule, die so kurzfristig eine Stelle freihatte. Und als sie dann erst mal hier waren, hat es ihnen gefallen. Gerald findet es interessant und Herr Winter findet es wichtig, dass mit so eine Schule solchen Kindern gute Lehrer hat.“
Aha. Gerald war also bei der Tarngeschichte geblieben. Seine Mutter war noch sehr lebendig, das wusste Lisandra. Denn Gerald hatte sich damals zu Hause einen Weißen Lindwurm ausgeliehen, eines der wunderbarsten und wertvollsten Geschöpfe, die es überhaupt in Amuylett gab. Und es war ihm folgender Satz herausgerutscht:
„Wenn ich diesen Lindwurm mit nur einer beschädigten Schuppe nach Hause bringe, dann redet meine Mutter für den Rest meines Lebens kein einziges Wort mehr mit mir. Sie und dieser Lindwurm sind ganz dicke.“
Lisandra dachte nach. Gerald küsste also Scarlett, aber er verschwieg ihr die Wahrheit. Was das wohl zu bedeuten hatte?
„Ich wäre ein bisschen vorsichtig mit ihm“, sagte sie schließlich, als die beiden im Erdgeschoss angelangt waren. „Wir wissen nicht, was er wirklich hier will.“
„So sehe ich das auch“, sagte Scarlett nüchtern, wenn auch ein wenig enttäuscht, dass Lisandra genauso misstrauisch war wie sie selbst.
„Was nicht heißt, dass du ihn nicht küssen kannst, wenn es dir Spaß macht.“
„Wer sagt, dass es mir Spaß macht?“, entfuhr es Scarlett, als sei dies die abwegigste Idee der Welt. „Ich hab doch nicht mal zurückgeküsst!“
„Aber er lebt noch“, stellte Lisandra fest. „Hast du ihn geschlagen oder gekratzt?“
„Nein.“
„Dann hast du ihn wohl gern.“
„Trophäensaal, hier sind wir“, sagte Scarlett kurz angebunden und drückte Lisandra eine magikalische Lampe in die Hand. „Erst in einen Schrank setzen, dann anzünden. Ich beeile mich, damit du nicht verhungerst.“
Und weg war sie. Lisandra brachte es nicht mal fertig, so schnell danke zu sagen, wie Scarlett verschwunden war. Ja, sie mochte Gerald, daran bestand kein Zweifel!
Der Trophäensaal sah bei Tageslicht sehr geplündert aus. Es wurde behauptet, dass in diesem weiträumigen Flur mit den riesigen Fenstern einmal die Schätze aller Burgherren ausgestellt worden waren. Also der mit Gold beschlagene Knüppel von Wargar dem Ungelenken oder die schmucken, zerbeulten Silberschilde, die er im Krieg gegen das Übersee-Reich Katlapudia erbeutet hatte. So Zeug eben, aber jetzt hing fast nichts mehr im Trophäensaal außer einem halb von Motten zerfressenen Teppich, zwei verbogenen Lanzen und einem
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