Die Sumpfloch-Saga Bd. 2 - Dunkelherzen und Sternenstaub
wie diese hatten dazu geführt, dass die beiden Mädchen, die so unterschiedlich waren und sich früher so sehr angefeindet hatten, eine Art Bündnis eingegangen waren. Es beruhte auf einer unausgesprochenen gegenseitigen Wertschätzung, was vor dem Hintergrund dessen, was im letzten Halbjahr passiert war, geradezu verrückt anmutete. Vielleicht lag es daran, dass Berry das Geheimnis von Scarletts wahrer Natur so umsichtig hütete, als sei es ihr eigenes. Warum sie das tat, war Scarlett ein Rätsel. Berry hätte sich viel gehässiger verhalten können, aber sie tat es nicht. Jetzt, in Krotan Westbarschs Unterrichtsstunde, musste Scarlett feststellen, dass sie Berry so sehr vertraute, dass sie keinen Zweifel an deren Aufrichtigkeit hatte. Was Berry gesagt hatte, hielt Berry auch für die Wahrheit. Und wenn ein kluges Mädchen wie Berry etwas für die Wahrheit hielt, dann musste man es ernst nehmen. Berrys Angst vor Hanns und Scarletts Gefühl, dass Berry mehr wusste, als sie zu verraten wagte, sprachen leider dafür, dass Hanns nicht der harmlose Junge war, für den Scarlett (und auch Gerald) ihn hielten.
Scarlett musste versuchen, mehr über ihn herauszubekommen. Das wiederum rückte ihre Verabredung mit Hanns in ein ganz anderes Licht: Sie würde ihm wohl besser keine Grenzen setzen und ihn sogar in Sumpflochs unterirdische Schwärze begleiten, wenn er das wünschte. Wenn er ihr vertraute, konnte sie ihn aushorchen. Aber das war gefährlich. Viel lieber hätte Scarlett das Gegenteil getan. Doch Berrys Warnung hatte ihr viele Gespräche mit Hanns ins Gedächtnis gerufen, die ihr merkwürdig vorgekommen waren. Er hatte gesagt, dass sie sich entscheiden müsse und der Tag kommen werde, an dem sie in eine bestimmte Richtung rennen müsse. In seine Richtung.
Scarlett lief ein Schauer über den Rücken, als sie daran dachte. Sie würde Viego Vandalez davon erzählen. Aber diese Unterredung musste warten, denn Viego war für einige Tage verreist und würde frühestens übermorgen zurückkommen.
Auch Thuna ließ den Unterricht von Krotan Westbarsch an sich vorbeirauschen, ohne etwas mitzubekommen. Normalerweise bemühte sie sich, eine aufmerksame Schülerin zu sein, doch heute gelang es ihr nicht. Sie war zu aufgeregt. Die meiste Zeit starrte sie aus dem Fenster, das ihr Viego Vandalez in der ersten Woche des Schuljahrs in die Wand gezaubert hatte. Für Thuna waren Fenster lebenswichtig. In Räumen ohne Fenster bekam sie weiche Knie, Panikgefühle und Erstickungsängste. Der Halbvampir hatte ihre Nöte bemerkt und ein Fenster aus den oberen Stockwerken geklaut und hier unten eingesetzt. Seither war Thuna davon überzeugt, dass der Halbvampir ein freundlicher Mann war, auch wenn er anders aussah und sich oft anders anhörte. Er hatte eine grimmige Art zu sprechen und war nicht zimperlich, wenn es darum ging, einem Schüler eine hässliche Wahrheit beizubringen.
Jetzt schaute Thuna also über die Sümpfe hinweg, die im Sonnenlicht vor sich hin dampften, und in der Ferne sah sie den Rand des schwarzen Waldes. Dorthin wollte sie heute gehen. Nach dem Mittagessen wollte sie sich mit Rackiné im Garten treffen. Er hatte nämlich festgestellt, dass die Monster-Stiefmütter ausgezeichnet schmeckten, vor allem die zarten, jungen Blätter und Blüten. Im Garten würde er also seine Mahlzeit einnehmen und dann … dann würden sie einen Ausflug in den bösen Wald machen!
Ihren Freundinnen hatte Thuna kein Wort davon verraten. Sie würden sich bloß Sorgen machen. Wenn ihr etwas zustieß, konnte Rackiné immer noch Hilfe holen. Es war komisch: Normalerweise war Thuna sehr vernünftig. Sie hätte sich vor dem Wald gehütet, vor dem sie immer wieder gewarnt worden war. Doch der Wald rief nach ihr, er lockte sie. So wie die Aasbienen dem faulig-süßen Duft der Ungenießbaren Apfelbäume verfallen waren, so fühlte sich Thuna vom bösen Wald unwiderstehlich angezogen. Wenn sie nicht hineinging, würde sie den Sinn ihres Lebens verpassen. So kam es ihr vor.
Natürlich war ihr klar, dass man solchen Gefühlen nicht ohne Weiteres trauen durfte. Womöglich gab es im Wald jemanden oder etwas, der genau das mit ihr vorhatte: ihr den Verstand zu rauben, sie in den Wald zu locken und dann einzufangen. Es waren schon Schüler im Wald verschwunden und nie zurückgekehrt. War es ihnen genauso ergangen wie Thuna? Dass sie das Gefühl hatten, unbedingt in den Wald gehen zu müssen, und dann in einer Falle gelandet waren? Aber selbst wenn es
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