Die Sumpfloch-Saga Bd. 3 - Nixengold und Finsterblau
erwiderte Lisandra. „Sei doch nicht immer so schrecklich moralisch!“
„Was soll ich denn sonst sein?“, fragte Thuna aufgebracht.
Lisandra zuckte mit den Achseln.
„Ein bisschen lockerer vielleicht?“
Thuna holte tief Luft, um Lisandra etwas sehr Unlockeres zu sagen, doch Maria legte ihr schnell die Hand auf die Schulter.
„Nicht streiten, hört ihr? Lasst uns lieber weitergehen.“
Die Mädchen verließen den Waldrand und traten in das helle Licht eines ungewöhnlich warmen Herbstnachmittages. Das struppige Gebüsch in den Hügeln duftete nach süßen Beeren und aufgewirbeltem Staub. Einmal rannte ein dunkelbraunes Kaninchen über den Weg, gefolgt von einem zweiten mit weißen Tupfern. Hoch oben am wolkenlosen Himmel kreiste ein Raubvogel, sonst war das Hügelland verlassen und still.
„Wisst ihr, was ich nicht verstehe?“, fragte Lisandra, als sie an die Kreuzung mit den drei Pfaden kamen und den Weg Richtung Dorf einschlugen. „Wenn sich Zauberer in alle möglichen Tiere verwandeln können – warum ist es dann etwas Besonderes, dass ich mich in einen Vogel verwandeln kann?“
„Und es nicht mal schaffst, dich alleine zurückzuverwandeln“, murmelte Thuna, die immer noch verärgert war.
Scarlett schwieg. Sie war mit den Gedanken ganz woanders und hatte gar nicht richtig zugehört. Da Thuna offensichtlich keine Lust hatte, einen klugen Einfall zum Besten zu geben, sagte Maria, was ihr gerade einfiel.
„Vielleicht ist es ja nur ein nebensächliches Untertalent und es geht eigentlich um etwas anderes! So wie Thuna gegen magikalisches Fluidum allergisch ist. Sie könnte sagen: Hm, das ist doch gar nichts Besonderes, dass ich gegen magikalisches Fluidum allergisch bin! Aber die Wahrheit ist, dass das nur ein Symptom ihrer Feenbegabung ist. Weil Feen dieses Fluidum überhaupt nicht vertragen können!“
Lisandra ließ diese Worte auf sich wirken und sagte dann:
„Das wäre allerdings stark, wenn ich außer Fliegen noch ein paar andere Talente auf Lager hätte!“
„Gerald kann sich unsichtbar machen und sonst nichts“, wandte Thuna ein.
„Wer sagt das denn?“, fragte Lisandra. „Vielleicht kann er ja noch viel mehr als das?“
„Ach ja, stimmt“, sagte Thuna. „Jetzt, wo du es sagst: Er kann Lesen und Schreiben! Das kann nicht jeder …“
„Jetzt hör doch endlich mal damit auf!“, rief Lisandra und blieb stehen.
Thuna blieb aber nicht stehen, sondern ging einfach an Lisandra vorüber.
„Was hat sie bloß?“, raunte Lisandra Maria zu. „Sie ist heute so humorlos!“
Thuna hatte genau gehört, was Lisandra gesagt hatte. Sie drehte sich um.
„Du wärst auch humorlos, wenn du jede Woche bei der Glazard aufkreuzen müsstest!“, rief sie. „Seit die Schule wieder angefangen hat, bin ich erst einmal im Wald gewesen! Und das war ein totaler Reinfall, weil es geregnet hat und ich mich nur mit Rackiné herumgestritten habe. Ich wollte längst mal ins Feenmaul tauchen, um mir das Unterwassergefängnis anzusehen, aber ich habe kein Unterwasserlicht und keine Zeit! Ich habe überhaupt keine Zeit mehr! Der Löwe will ständig gefüttert werden und spielen und im Garten ausgeführt werden … und überhaupt!“
Thunas Ausbruch riss Scarlett aus ihren Gedanken und Lisandra tat es plötzlich leid. Natürlich hatte es Thuna viel schwerer als sie.
„Entschuldigung“, sagte Thuna schnell, denn Ausbrüche dieser Art waren ihr peinlich. „Ich wollte nicht jammern.“
„Tust du doch gar nicht“, erwiderte Scarlett. „Jeder versteht das. Sogar Lisandra!“
„Ja, sogar ich“, sagte Lisandra und grinste versöhnlich. „Ich kann dir den Löwen mal abnehmen, wenn du willst.“
„Danke“, sagte Thuna.
Aber gleichzeitig hatte sie ein schlechtes Gewissen. Es waren ja nicht nur die Dinge, die sie aufgezählt hatte, die ihr Kummer bereiteten. Es gab noch einen viel dümmeren Grund für ihre schlechte Laune. Und der war, dass sie arm war. Sie kam sich so hässlich vor in ihrer alten Kleidung, die ihr allmählich zu klein wurde. Sie war gewachsen im letzten Jahr. Irgendwie hatte sie längere Arme und Beine bekommen. Das sah komisch aus, wenn die Ärmel und Beine zu kurz waren oder die Knie unter dem Rock hervorschauten. Wenn sie Lars im Garten begegnete, schämte sie sich. Sie wäre gerne viel hübscher gewesen. Ihre glatten, unscheinbaren, dunkelblonden Haare duldeten weder Haargummis noch Spangen noch Lockenwickler. Sie hingen widerspenstig gerade nach unten und wollten jeden Tag
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