Die Tänzerin im Schnee - Roman
ein unverbesserlicher Romantiker.«
»Ein Romantiker? Ganz bestimmt nicht!«
»Nicht in deinen Gedichten. Ich rede von deiner Einstellung, von deinem Vertrauen auf das Gute in der Welt. Und auf deinen Führer. Du idealisierst die Menschen.«
Das ist das Beste daran, hier draußen im Wald zu sein, denkt Nina. Man kann völlig frei sagen, was man denkt. Es ist niemand da, der lauschen könnte.
»Ich idealisiere überhaupt niemanden«, sagt Viktor. »Das ist alles nur eine Frage der Perspektive. Wir sind dabei, eine neue, bessere Gesellschaft zu begründen. Ein neues Volk. Das ist ein schwieriger Prozess. Du siehst eben vor allem das, was daran negativ ist. Dabei gibt es auch sehr viel Gutes.« Das liebt Nina so sehr an ihm – seinen Optimismus, seine Klugheit und ehrliche Zuversicht.
»Ach ja, natürlich«, sagt Gersch. »Du kannst schließlich auch immer noch das tun, was dir am meisten bedeutet, und damit etwas bewegen. Ich will nichts überdramatisieren, aber seien wir mal ehrlich, für mich ist in dieser Gesellschaft kein Platz mehr. Ich habe hier keine Zukunft. Alles, was ich von jetzt an komponiere, landet in der Schublade.«
Wahrscheinlich hat er recht, denkt Nina. Kein Orchester würde es jetzt noch wagen, seine Stücke aufzuführen. Niemand würde Aufnahmen davon machen. Trotzdem hört sie sich selbst sagen: »Aber das kann sich doch ändern. Das weißt du. Von einem Tag auf den anderen.« Denn auch das ist wahr.
An dem Abend essen die vier Pilzsuppe und Bratkartoffeln und trinken so viel Wein, dass sich Viktor, als die Gläser endlich leer sind und die Grillen zirpen, zufrieden grunzend den Bauch tätschelt und sagt: »Tut mir leid, Nina, auf meine Liebensdienste wirst du heute wohl verzichten müssen.«
»Seht mal«, sagt Vera und nickt träge zum Fenster hinüber. »Glühwürmchen.« Sie trägt ein weißes, besticktes Leinenkleid aus der Ukraine und schmiegt sich an Gerschs ausgestreckten Arm. Mit dem hellen Leinen und ihrem schimmernden Haar wirkt sie im flackernden Lampenlicht zart wie ein Nachtfalter. Gersch zieht sie näher zu sich heran und reibt seine Nase an ihrem Hals. In solchen Augenblicken sieht er mit seinem schielenden Auge geradezu verwegen aus.
»Och!« Vera entzieht sich ihm. »Du riechst ja wie ein Junggeselle.«
Gersch zieht sie wieder zu sich. »Dann sollten wir alle eine Runde schwimmen, würde ich sagen.«
»Bei allem, was ich gegessen habe?«, protestiert Viktor. »Da ersaufe ich ja.«
Aber Nina zieht ihn schon von seinem Stuhl hoch. »Komm schon, ich rette dich dann.«
Der Fluss ist gleich hinter dem Wäldchen, das zur Datscha gehört, eine jähe Lichtung, auf die der Mond hell herabscheint. An seinem Ufer dümpelt, an einem Baumstamm festgebunden, ein Kanu, mit dem sie manchmal Ausflüge machen. Nina betrachtet die schwarze Wasseroberfläche, diese glatte, dunkle Haut. Nachtschwarze Schatten umgeben sie. Vera und sie ziehen sich behutsam Stück für Stück aus, während Gersch und Viktor sich einfach die Kleider vom Leib reißen, sich wie Kinder sofort ins Wasser stürzen. Nina geht zum morastigen Ufer hinunter und watet dann bis zur Hüfte in den Fluss. Sie beugt sich vor und lässt ihre Arme ins Wasser gleiten wie in lange festliche Handschuhe. Es ist überraschend warm und umhüllt sie von allen Seiten, als sie untertaucht. Dann legt sie sich auf den Rücken, streckt ihre Füße aus dem Wasser und lässt sich treiben. Der Himmel ist tiefschwarz, endlos weit und mit winzigen Sternen übersät.
Die schwere, üppige Stille der Nacht – nur dann und wann der Ruf einer Eule. Nina ist an diese Ruhe noch nicht gewöhnt, an die heimlichen, flüchtigen Geräusche der Natur, so anders als in Moskau, wo Tag und Nacht patriotische Lieder aus den Lautsprechern dröhnen.
Gersch ist umgekehrt, um Vera zu holen, die noch zaghaft am Ufer steht. »Komm schon her«, ruft er und watet auf sie zu.
Viktor hat sich auch auf den Rücken gedreht, paddelt zu Nina und berührt unter Wasser ihre Fingerspitzen. Sie erwidert die Berührung. Gersch beginnt eine Melodie zu summen, die Nina gleich erkennt. Er und Vera bespritzen einander mit Wasser, und Viktor singt den Text:
»Es gibt kein andres Land auf Erden, wo das Herz so frei dem Menschen schlägt.«
Dann schiebt er die Hände unter Ninas Schultern und bewegt sie sanft im Wasser hin und her. »Ich liebe es, den Grillen zuzuhören«, sagt sie. »Sie sind einfach überall, als hätten sie die ganze Welt erobert.«
Viktor schweigt einen
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