Die Tänzerin im Schnee - Roman
Haltung auf dem Sofa Platz, legte die Hände in den Schoß und ließ keinen Zentimeter Luft zwischen den Knien oder den Knöcheln. »Einmal habe ich mich frustriert über die Situation in meinem Land geäußert«, erzählte sie. »Mein Mann teilte meine Wut jedoch nicht. Ich schrie ihn an: ›Wie kannst du nur so sein? Wie kannst du so tun, als wäre alles in Ordnung?‹ Er lief davon, denn natürlich war mein Verhalten gefährlich. Ein paar Stunden später kam mein Mann zurück, setzte sich neben mich und erklärte ganz leise: ›Verstehst du denn nicht, ich muss einfach an ihn glauben.‹ Er meinte Stalin. Er sagte: ›Ich muss glauben. Woher soll ich sonst die Kraft nehmen, morgens aufzustehen?‹«
In ihrem Gesicht zeigte sich kaum eine Bewegung, während sie
sprach, doch ihr Tonfall veränderte sich, so dass ich mich fragte, ob sie seine Stimme hören konnte, als sie seine Worte wiedergab. Sie stand auf, und ich würde gern behaupten können, dass sie erleichtert aussah, doch das tat sie nicht. Sie wünschte mir einen schönen Tag und verließ das Zimmer.
Grigori schloss die Augen, nachdem er den Abschnitt zu Ende gelesen hatte. Er verspürte auf einmal eine tiefe Traurigkeit, vermischt mit Schuldgefühlen, als hätte er jemandem nachspioniert. Er war nicht nur traurig wegen Nina Rewskaja und Viktor Elsin oder wegen Zoltan und seinem nunmehr verblassten Tagebuch. Ihm wurde bewusst, dass sich seine Traurigkeit auf die Gedichte bezog, die er geliebt hatte, die unschuldig sehnsuchtsvollen Schaf- und Ziegenhirten, die verträumten Landschaften und lebendigen Wälder, die erschöpften und doch zufriedenen Bauern, deren große Hoffnungen niemals verzweifelt wirkten, sondern rein und unverfälscht. In ihnen musste etwas Wahres stecken. Denn wenn Elsin nicht geglaubt hatte … Wie hätte er diese Gedichte schreiben können, wenn er wusste, dass sie zugleich eine Form von Propaganda waren? Hatte er sie etwa auch mit Zynismus verfasst? Konnte jemand so abgebrüht sein? Dieses Bild von Elsin missfiel Grigori, und es löste sich jedes Mal in Luft auf, bevor es ganz greifbar wurde. Andererseits, was blieb einem Dichter denn übrig? Entweder arrangierte man sich mit all den Regeln und Vorschriften, oder man … was? Machte es wie Jessenin: schlitzte sich die Pulsadern auf, schrieb ein Gedicht mit seinem Blut und erhängte sich danach sicherheitshalber noch.
Oder man konnte fliehen, wie Zoltan. Blieb am Leben und konnte die Wahrheit erzählen. Auch deswegen war Zoltans Werk so bedeutend, jedes Gedicht war eine Botschaft, die über eine Mauer gesprungen war, einen Tunnel aus dem Gefängnis gegraben hatte, überlebt hatte, damit der Rest der Welt sie empfangen konnte.
So viele andere – andere Menschen, andere Dichter – schafften es nicht. Sogar Zoltans spätere Arbeiten waren wohl von dieser Erfahrung geprägt, überlegte Grigori. Wenn sich nur ein Verleger dafür finden ließe …
Grigori setzte sich und legte den Zettel auf seinen Schreibtisch.Wenn Viktor Elsin tatsächlich so empfunden hatte, wirklich daran geglaubt hatte oder glauben
musste
, wie er seiner Frau erzählte, was konnte er dann bloß getan haben, um so zu enden? Nicht, dass die Anschuldigungen wahr sein mussten. Es reichte, mit den falschen Leuten zu verkehren; man brauchte sich keines bestimmten politischen Vergehens schuldig zu machen. Natürlich war es reizvoller zu glauben, Viktor Elsin hätte sich tatsächlich umstürzlerisch betätigt, als zuzugeben, dass er sich einfach der Parteilinie unterworfen hatte. Grigori war lange von dem Gedanken fasziniert gewesen, dass sich Elsin trotz seiner scheinbaren Gutgläubigkeit letztendlich gegen das System aufgelehnt hatte.
Nacht aus schwarzem Samt, mit Sternennadelstichen hoch und weit gehängt …
Es waren die ersten Zeilen aus »Schwimmen bei Nacht«, einem uncharakteristischen Gedicht, mit dem sich Grigori vor langer Zeit so viel Mühe gegeben hatte. Ihm erschien seine Übersetzung nach wie vor etwas holprig – doch die Bilder und ihr genauer Wortlaut waren in diesem Fall das Wichtigste gewesen.
Schwimmen bei Nacht
Nacht aus schwarzem Samt, mit Sternennadelstichen
Hoch und weit gehängt. Im Mondlicht sind Gesichter.
In der Ferne treiben leise Echos auf dem Fluss.
Unser sorgenfreies Planschen wirft sie hin und her.
Damals waren wir so jung, vor einem lang verfloss’nen
Jahr. Das Haar lag nass auf unsren Ohren.
Grillenzirpen in der Luft, sie singen
Von Entschuldigungen, die wir niemals
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