Die Tänzerin im Schnee - Roman
den Fensterspalt etwas anderes suggerierte. Als er neulich abends anrief, hatte er gesagt: »Was höre ich da von einer gewissen berühmten Ballerina, die ihre Schmucksammlung versteigern lässt?«
»Woher weiß du das?« Sie war überrascht; außerhalb von Neuengland sollte sich wohl kaum jemand für diese Sache interessieren.
Aber es hatte wahrhaftig eine Erwähnung in der
L. A. Times
gegeben. Shepley hatte den Artikel ausgeschnitten und ihr geschickt; eine Spalte nur und nicht sehr lang, aber offenbar war das Thema eine Nachricht wert. »Ich bin stolz auf dich, Nina«, sagte er am Telefon. »Das ist wirklich ausgesprochen großzügig von dir.«
»Ach, du weißt doch, dass ich sie sowieso nie trage. Sie liegen nur im Tresor.«
»Richtig, aber ich weiß auch, welches Verhältnis du zu solchen Dingen hast. Du bist habgierig, genau wie ich.« Shepley lachte das leise, selbstironische Lachen, das sie an ihm so mochte. »Wir sind doch beide gleich, du und ich, weil wir uns einfach nicht zurückhalten können. Weil wir uns nicht davor zurückhalten können, uns Hals über Kopf in schöne Dinge zu verlieben.«
August 1950. Die wunderbare Zeit der reifen Tomaten und großen grünen Kohlköpfe. Schwere, schwüle Luft, wie Atemluft. Sie holpern zu viert in dem nagelneuen Auto, das Viktor erstanden hat, über staubige Straßen an den letzten Vororten vorüber. Der Kauf war der
Prawda
sogar eine Meldung wert: »V. Elsin, Dichter und Verdienter Künstler der Russischen SFSR, sowie P. Lisitzian, Solist am Bolschoi-Theater, haben sich je ein Pobeda-Automobil gekauft.« Der Wagen rumpelt in einer dichten Staubwolke dahin, an kleinen Gärten vorüber und an Kolchosbauern, die Gerste dreschen. Am Horizont sind bewaldete Hügel zu sehen, und Birken- und Erlenhaine stehen zwischen den Feldern. Die Straße ist von hohen Gräsern gesäumt, und in der Luft liegt der Geruch von Zwiebeln, von Wildkräutern und Schilf. Dann erreichen sie den Wald und fahren zwischen Fichtenschonungen weiter. An einer Lichtung, von der Straße durch einen hohen Zaun und ein rostiges Eisentor abgeschirmt, liegt die Datscha.
»Wie aus einem Märchen«, sagt Nina, als sie das spitze Schindeldach betrachtet und die hölzernen Fensterläden an den kleinen, mit weißem Stoff abgehängten Fenstern. Seit letztem Sommer schon besitzen Viktor und sie dieses Häuschen mit den abgenutzten Möbeln und ausgetretenen Dielen. Die meisten Datschas hier im Ort gehören dem Literaturfonds und werden an verdienstvolle Schriftsteller ausgeliehen. So hat auch Viktor diese Hütte an der abgelegensten Straßedes Dorfes zum ersten Mal gesehen. Aber er legt Wert darauf, hier arbeiten zu können, wann immer es ihm passt, und einladen zu dürfen, wen er will, also hat er sie letztes Jahr gekauft. Es gibt auch Schriftsteller, die ganz hierher übergesiedelt sind.
Sie packen ihre Reisetaschen und Vorräte aus: Petroleumkanister, Säcke voller Kartoffeln und Möhren, große Salatköpfe, bauchige Flaschen Schigulewskoje-Bier und einige Krüge Wein aus Napareuli. Mit ihrer Reisetasche unter dem einen und einer Wassermelone unter dem anderen Arm atmet Nina tief den Duft der Kiefernnadeln ein und schiebt das quietschende Tor auf. Ein Spinnennetz spannt sich hauchdünn über den Spalt. »Danke sehr«, sagt Viktor vergnügt und marschiert geradewegs durch das Netz hindurch, an der kleinen, halbschattigen Terrasse vorüber und dem kleinen Geheimvorrat von eingemachten Früchten und Gemüsen aus Europa. Gersch folgt ihm, beide Arme voller Säcke und Kisten, doch Vera bleibt einen Augenblick neben Nina stehen, um das Haus zu betrachten und die frische Waldluft zu atmen. »Da drüben ist der Fluss«, sagt Nina und zeigt auf eine Lichtung hinter dem zur Datscha gehörenden kleinen Gehölz.
Die ganze Luft summt vor Insekten. »Das erinnert mich an die Sommer im Ballett-Internat«, sagt Vera. In der ländlichen Sonne hat ihr Haar einen roten Schimmer. »Wir wurden immer ans Schwarze Meer gebracht. Alle, die nicht nach Hause konnten.« Die Waisen, soll das heißen, und die Kinder aus Alma-Ata, aus Tscheljabinsk und ähnlich entlegenen Orten. »Wir waren in Holzbaracken untergebracht, in Etagenbetten, und ich wollte nie oben schlafen, weil so viele Spinnen an der Decke hingen.«
»Hier gibt es wahrscheinlich auch Spinnen«, sagt Nina.
»Ach, jetzt machen sie mir keine Angst mehr.«
Die Datscha ist rustikal, mit zweckmäßig dünnen Wänden und einer Außentoilette. Weiß gekalkte Wände.
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