Die Tänzerin im Schnee - Roman
Leitartikel und sogar noch ein Schlag gegen Gersch persönlich von einem besonders boshaften Kritiker, den Viktor nur noch den »Rottweiler« nennt. Nina hat schon mehr als einmal das Schlagwort »Nieder mit den Kosmopoliten« gehört. Zoja könnte für Gersch tatsächlich eine Art Schutzschild sein.
»Ich habe das gar nicht scherzhaft gemeint«, sagt Viktor. »Es ist mein Ernst, das mit der Verbindung zum Volk. Schließlich hat es seinenGrund, dass die Sitze in der ersten Reihe in deinem Theater nur drei Rubel kosten, Nina. Das Leben ist hart, die Leute sind müde. Du zeigst ihnen wahre Schönheit. Du machst sie stolz. Du erinnerst uns alle daran, wozu wir fähig sind – dass wir alle gemeinsam Großes erreichen, eine neue Gesellschaft begründen können. Warum mag denn unser Jossif Wissarionowitsch wohl am liebsten die größten, schillerndsten Inszenierungen? Weil er weiß, dass das Monumentale – mit den schönsten Kulissen, den aufwendigsten Kostümen – den größten Eindruck hinterlässt.«
»Ganz genau«, sagt Gersch. »Und genau das ist ja gerade das Problem! Da bleibt überhaupt kein Raum für Komplexität, für Sensibilität, für alles, was auch nur im Entferntesten anspruchsvoll wäre. Immer sollen wir uns dem Publikum anbiedern. Aber wie soll es dann jemals Werke mit wahrem Tiefgang schätzen lernen? Immer muss alles überdeutlich gesagt werden. Und warum? Weil die Leute klare Signale brauchen, weil man ihnen genau sagen muss, was sie glauben sollen …«
»Sie sind eben müde«, sagt Viktor. »Sie arbeiten hart, und …«
Gersch schneidet ihm das Wort ab. »Man muss ihnen immer ganz genau sagen, wie sie zu reagieren haben.«
»Ich glaube nicht, dass das der Grund ist«, entgegnet Viktor ruhig, auch wenn Nina sieht, dass er ins Grübeln gekommen ist. »Ich glaube, es geht eher darum … ihnen eben etwas Unkompliziertes zu bieten. Etwas Einfaches, zu dem sie Zugang finden.«
»›Einfach‹ würde ich die Inszenierungen am Bolschoi nicht gerade nennen«, wendet Gersch ein, »mit so viel Pomp und Flitter. Als hätte das irgendwas mit dem wirklichen, alltäglichen Leben zu tun! Du bist ja übrigens auf einmal so still, Nina.«
»Ich denke über deine Argumente nach«, ruft Nina vom Tor her. Sie hat inzwischen mit ihren Fußübungen angefangen. Mit den Zehen greift sie den Zipfel eines schweren Flickenteppichs, den sie vor sich hingelegt hat, zieht ihn zu sich heran und versucht ihn dann mit dem anderen Fuß wieder von sich weg zu ziehen. »Aber ist das nicht genau das, was ein Theater bieten muss?« Es stimmt ja, dass die Inszenierungen des Bolschoi pompös sind, überladen, maßlos. Grelle Farben, akrobatische Leistungen. Für die Zeit der Vorstellung lassen die Zuschauerihren Alltag hinter sich und schwelgen in dem Anblick der mit Samt gepolsterten Sitzreihen, der rot-goldenen Balkone, der leuchtenden Kandelaber, der vergoldeten Decke, der reich verzierten Zarenloge und des riesigen, majestätisch über ihren Köpfen schwebenden Kronleuchters mit den Abertausenden Kristallen. Ein paar Stunden lang gibt es für sie nur wunderschöne Musik und atemberaubenden Tanz, der noch bei jedem den Glauben an die Welt wiederherstellen würde.
»Kann ja sein«, sagt Gersch, »aber …«
»Du unterschätzt das Volk«, meint Viktor. »Ich glaube gar nicht, dass man ihnen sagen muss, was sie zu fühlen haben. Große Kunst teilt sich instinktiv mit. Sie versteht sich von allein.«
Daran glaubt Nina auch. Wenn sie tanzt – und nur dann, nicht beim Absingen von Parteiliedern oder beim Marschieren in Zweierreihen – spürt sie manchmal unmittelbar ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Nur auf der Bühne, vor Publikum, begreift sie sich als Genossin einer wahrhaft großen Nation. Andererseits muss sie an ihren Auftritt als Odile denken, an die staunend aufgerissenen Augen der Zuschauer, als sie verblüffende Tricks vorführte wie ein Zirkushund. Diesen berechenbaren Applaus, der nicht ihrer Musikalität oder ihrem künstlerischen Talent galt, sondern den vielen hintereinander abgespulten Fouettés. Das ist keine wahre Kunst; das weiß Nina im Grunde ihres Herzens. Sie hat selbst erlebt, wie die Ulanowa, ihr größtes Vorbild, das Publikum mit ihren nuancierten Bewegungen spürbar auf eine ganz andere Ebene hebt. Nina würde alles dafür tun, solche Kunstfertigkeit zu erlangen, mit jeder Bewegung so viel Lebensfreude auszustrahlen …
»Das ist eben dein Problem«, sagt Gersch zu Viktor. »Du bist
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