Die Tänzerin im Schnee - Roman
hörten.
Hin ist die vergangene Vollkommenheit des Waldes:
Schattenflickendecke, Fichtennadelteppich,
Sonnentropfen aus gelbem Harz. Die Luft
Klingt … Die unsichtbare Nachtigall, zu spät,
Singt ihr unbeugsames Lied – gefangen irgendwo
Zwischen Wasser und dem Himmel, beide schwarz.
Es war eins von Elsins letzten Gedichten und eins seiner untypischsten.Aber konnte man es als staatsgefährdend bezeichnen? Wenn man emsig nach etwas Umstürzlerischem darin suchte, waren da vielleicht die Stimmung des Bedauerns, des Verlusts und die Dunkelheit von Wasser und Himmel. Aber auch wenn es noch deutlicher wäre – oder im Gegenteil, wenn Elsin nie auch nur ein einziges problematisches Wort geschrieben hätte –, was konnte all das schon beweisen? In beiden Fällen würde es sich nicht eindeutig klären lassen, ob Elsin wirklich etwas getan hatte, ob er seinen Gedanken oder seinen Zweifeln Taten folgen ließ.
Die unsichtbare Nachtigall, zu spät …
Und selbst wenn … nun,
was
genau hatte er denn dann getan?
Dieses Gedankenmuster war alt, es bildete eine Schleife, der Grigoris Verstand schon so viele Male gefolgt war. Er landete dabei immer wieder an der gleichen Stelle. Trotzdem fühlte er sich in diesem Augenblick seltsam zuversichtlich, als wäre er kurz davor, das Muster aufzubrechen. Dieses Gefühl hatte etwas mit Drew Brooks zu tun, stellte er fest, mit dem Klang ihrer Stimme, als sie ihm erklärte: »Ich denke, wir könnten etwas herausfinden.« Grigori hörte sie immer noch in seinem Kopf, ihre optimistischen, verheißungsvollen Worte. Hatte sie sich womöglich schon Zugang zu einem Archiv des Juweliers verschaffen können? Grigori verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, ihre Nummer zu wählen. Aber es war noch nicht einmal eine Woche vergangen, seit er das letzte Mal in ihrem Büro mit ihr gesprochen hatte. Und wenn sie schon etwas herausgefunden hätte, dann hätte sie sich doch sicherlich bei ihm gemeldet, oder?
Keine Nachricht ist eine gute Nachricht
, sagte er sich und widerstand dem Drang, sie anzurufen – aber was sollte dieses Sprichwort denn eigentlich bedeuten?
Der erste Skandal der Ballettsaison im Herbst 1950 ist der Sturz einer der Primaballerinen. Natürlich stürzen Tänzer hin und wieder – ein übereifriger Sprung, eine aus dem Gleichgewicht geratene Pirouette, man geht eben Risiken ein. Doch diese Tänzerin hat ihre besten Jahre bereits hinter sich; sie wiegt zu viel und stellt sich zum Aufwärmen unter die heiße Dusche, statt sich zu bewegen. Als Nächstes hört man, dass sie krankgeschrieben ist.
Zur Probe am darauffolgenden Tag wird Nina von den anderen abgesondert.Sie bekommt ein strenges Einzeltraining in einem Übungsraum im ersten Stock, und ihr Name taucht auf dem Programm der nächsten Woche ganz oben auf, direkt neben »Giselle«. Giselle, die Vollendung des klassischen Tanzes, aus der Geschichte über die Wilis, die Geister junger Mädchen, die an ihrem Hochzeitstag sitzengelassen wurden. Nachts steigen sie in ihren Brautkleidern aus ihren Gräbern im Wald und tanzen bis zum Morgengrauen – und jeder Mann, der ihren Weg kreuzt, muss sich selbst zu Tode tanzen. Seit Jahren sehnt sich Nina danach, Giselles
Déboules en diagonale
aufzuführen, sich hoffnungslos in den Wahnsinn und schließlich in den Tod zu wirbeln. Nun wird eine Extrareihe Häkchen an die Rückseiten beider Gisellekostüme genäht, um sie Ninas Körperform anzupassen. Sie bekommt neue Spitzenschuhe und klopft den vorderen Teil ihres Paars weich, damit sie sich damit geräuschlos über die Bühne bewegen kann. Sie möchte eine Illusion geisterhafter Leichtigkeit erschaffen – mit nahezu lautlosen Schritten von Füßen, die den Boden nicht zu berühren scheinen.
Als sie auf ihren Auftritt wartet, beginnen ihre Beine zu zittern. Bei ihren ersten Schritten fühlt sie sich wie in Brand gesetzt, beinahe betäubt und zugleich so heiß, als würde ihr Gesicht glühen. Die Anfangsszene verlangt ebenso viel Schauspielerei wie Tanz, sie muss immer wieder schüchtern vor Albrecht davonlaufen, grazil hin und her hüpfen und springen. In ihrem mädchenhaft hübschen Bauernkleid erinnert sich Nina an ihre eigenen Erlebnisse der letzten Zeit, wie es sich angefühlt hat, jung und unbedarft und frisch verliebt zu sein, die Überraschung und die Zweifel und die freudige Erregung.
Er liebt mich, er liebt mich nicht
– sie zupft die Blätter eines Gänseblümchens, wirft es dann fort, während Albrecht neben ihr
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