Die Tänzerin im Schnee - Roman
auf der Bank sitzt. Erst als er ihr seine Liebe erklärt hat und sie gemeinsam mit Freudensprüngen über die Bühne kreisen, verschwindet Ninas Anspannung vollkommen. Ihr Körper trägt sie davon, dreht sich ruhig und sicher, lässt sie den Rücken anmutig wölben, während sie die langsamen Drehungen zuerst auf dem einen, dann auf dem anderen Fuß vollführt. Wie gut ihre Füße diesen Boden kennen, die steile Neigung der Bühne, jede kleine Kerbe im Holz, jede Falltür, jeden Scheinwerfer und jeden der farbigen Klebestreifen. Als die kleinen einbeinigenSprünge an der Reihe sind, mit denen sie beinahe die gesamte Bühne überquert, fühlt sich Nina so sicher, dass sie Albrecht auf halber Strecke einen kleinen Kuss zuwirft. Sie spürt geradezu, wie ihre Kameradinnen sie aus den Kulissen heraus beobachten, sie anfeuern und kritisieren – sie weiß, dass Vera (die als Königin der Wilis erst im zweiten Akt erscheint) von hinten zusieht und Polina sich an der Kiste mit dem Kolophonium für ihren Auftritt aufwärmt. Sie wird als Inbegriff der Kokette den »Bauern-Pas-de-deux« voller neckender Sprünge tanzen.
Mittlerweile ist Nina bei einer der schwierigsten Stellen angelangt: der Szene des »Wahnsinns« am Ende des ersten Aktes, in der Giselle erfährt, dass der stattliche Bauernjunge, der sie zu lieben vorgibt, in Wahrheit ein Prinz ist – und bereits mit der Tochter des Herzogs verlobt. Schockiert und zutiefst bestürzt blickt sie auf die goldene Kette, die sie von Bathilde bekommen hat, reißt sie sich vom Hals und wirft sie auf den Boden. Sie flieht in die Arme ihrer Mutter. Manche Ballerinen nutzen pantomimische Mittel, um Giselles plötzliche Erkenntnis darzustellen, doch Nina wird sie tanzen, so wie auch schon andere vor ihr es getan haben. Zur Vorbereitung hat sie sich vorgestellt, was sie empfinden würde, wenn man sie so hinters Licht führte, und sich daran erinnert, wie auch Viktor sich ihr gegenüber zuerst als Mann einfacher Herkunft, der in den Wäldern aufgewachsen war, dargestellt hatte, bevor er ihr seine wahre Geschichte offenbarte. Wie in Trance, mit abwesendem, verlorenem Blick und gelösten Haarsträhnen, die sich dunkel von ihrem blassen Gesicht abheben, bewegt sich Nina mit zögernden, zerstreuten Schritten vorwärts und stellt sich dabei vor, sie wäre wirklich Giselle, die gerade seelisch und körperlich zusammenbricht.
Mutter sitzt im Publikum und winkt Nina fröhlich mit ihrem Programmheft zu; Viktor jedoch sieht nichts von alldem. Er ist zu Hause bei Madame, kontrolliert ihren Puls und legt ihr feuchte Waschlappen auf die Stirn, denn sie hat Fieber bekommen und liegt im Delirium auf dem Bett. Obwohl Nina annimmt, sie müsste sich um Madame sorgen, weiß sie doch auch, dass diese sich am Ende des Abends wie durch ein Wunder wieder erholt haben wird. Die alte Dame wirdnicht zum ersten Mal an genau dem Tag krank, an dem Nina in einer neuen Rolle debütiert.
Donnernder Applaus am Ende des ersten Aktes, sogar noch lauter nach dem schwierigen Adagio im zweiten. Nina redet sich ein, es sei nicht so tragisch, dass Viktor dies nicht miterleben kann. Es wird ja noch viele weitere Abende geben, heute ist erst der Anfang … Und dann ist die Vorstellung beendet, das Publikum spendet einen langen, begeisterten Beifall, das Klatschen nimmt kein Ende und gleicht sich im Takt an, so dass Nina mehrmals hervorkommen und sich verbeugen muss. Erst hinter der Bühne bricht sie kurz in Tränen aus – vor Erleichterung und vor Erschöpfung.
Nach nur wenigen Vorstellungen scheint es, als wäre sie dafür geschaffen worden: das Publikum bejubelt ihre Auftritte, wirft ihr Blumen vor die Füße und ruft sie so oft vor den Vorhang zurück, dass sie sich immer noch verbeugt, wenn die Orchestermitglieder ihre Sitze und Notenständer längst verlassen haben. Der Konzertsaal ist voll, Besucher beugen sich über die Logen, als ob sie näher an sie herankommen wollten – sitzen jedoch völlig gebannt still, sobald sie zu tanzen beginnt. Viktor schaut ebenfalls zu, da Madame es endgültig aufgegeben hat, krank zu werden, und sich nun mit dem Erfolg ihrer Schwiegertochter abfindet.
Prawda
feiert Ninas »große künstlerische Fähigkeiten und ihre bezaubernde Leichtigkeit« und nennt sie »den neuesten Stern des Bolschoi-Theaters«. Binnen Wochen wird sie offiziell befördert.
Erste Tänzerin: endlich eine wahrhaftige Ballerina. Am Kassenfenster bekommt sie am Ende des Monats das Doppelte ihres vorherigen Gehalts
Weitere Kostenlose Bücher