Die Tänzerin im Schnee - Roman
ausgehändigt. Und wenn sie auf der Straße eine Reklame des Bolschoi-Theaters entdeckt, steht ihr Name in großen Buchstaben auf dem Plakat. Dennoch wirkt es auf sie am Anfang so zerbrechlich; es hätte ja genauso gut Veras oder Polinas Name auf der Anzeige erscheinen können, wenn der Intendant eine von ihnen ausgewählt hätte. Wahrscheinlich haben auch sie diesen Gedanken gehabt. Aber vielleicht können sie auch erkennen, egal wie sie sich dabei fühlen mögen, dass Nina es verdient hat, dort genannt zu werden.
Tage und Nächte, Wochen und sogar Monate zerfließen ineinander, während sie eine neue Rolle nach der anderen probt, Kitri anstelle derDryadenkönigin, Prinzessin Aurora anstelle der Fliederfee. Sie wird nun als Star vor den Vorhang gerufen und lässt sich Zeit, wenn sie mit etwas langsameren und feierlicheren Schritten als sonst auf die Bühne tritt. Sie bekommt kleinere Wünsche erfüllt – zusätzliche Sicherheitsnadeln, Fettschminke, mehr Klammern für ihr Haar – und verbringt vor Aufführungen den ganzen Tag mit den Füßen auf einem Kissen im Bett. Sie hat schnell gelernt, den Neid und den leisen Groll zu ignorieren, die ihr von einigen der anderen Tänzerinnen entgegenschlagen.
Ihr Partner ist Pjotr Raade, vom Publikum geliebt, mit einem hochmütigen Gebaren und den verwegensten Sprüngen. An anderen Tagen tanzt sie mit Juri Lipowitsch, einem weiteren großen Darsteller. Als Stalin persönlich vor vier Jahren eine Vorstellung besuchte, wurde Juri für ein privates Treffen in die Loge des Großen Führers gebeten.
Nina hat diese Geschichte schon unzählige Male gehört; Juri beschreibt jedes Mal bis ins Detail, wie Stalin dort mit ernster Miene hinter seinem Tisch saß, auf dem eine Schale mit hart gekochten Eiern stand. Jedem, der es hören will, berichtet Juri: »Er sagte, dass er meinen Stil sehr ›reflektiert‹ finde, ›besonders in den Schultern‹.«
Seit vier Jahren versucht Juri nun, dieser Bemerkung eine Bedeutung zu entlocken. Als er Nina um eine Interpretation bittet, stellt sie die Vermutung auf, dass darin womöglich gar kein tieferer Sinn stecke. Schließlich verfügt Stalin nicht über das Vokabular eines Tänzers; vielleicht wollte er einfach nur irgendetwas sagen.
»Aber Nina, er ist unser Großer Führer, er muss etwas damit gemeint haben.«
»Aber er ist kein Tänzer. Vielleicht wusste er selbst nicht genau, was er meinte. Oder wie er es ausdrücken sollte.«
Juri sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. Ihre Andeutung, der Große Führer wisse nicht, worüber er rede, war zu gewagt.
»Ich wollte damit sagen –«
»Schon gut. Trotzdem muss es irgendeine Bedeutung haben.«
Vertrauliche Gespräche mit einer der Berühmtheiten des Bolschoi-Theaters … Nina tanzt jetzt bei Premieren, bekommt Post von Bewunderern und schaut sich Vorstellungen aus einem roten Sessel in der geräumigen, mit Satin bespannten Loge des Intendanten an. Dennochbleibt ihr Tagesablauf der gleiche, sie eilt von Proben zu Vorstellungen, dazwischen zu den obligatorischen politischen Stunden. Sie näht Satinschleifen an ihre Schuhe, weicht die Fersen in warmem Wasser ein, biegt die Schäfte hin und her. Sie flickt die Löcher in ihren Strumpfhosen, schiebt die Fäden mit einem winzigen Haken vorsichtig zurück. Montags hat sie frei und verbringt so viel Zeit wie möglich mit Mutter. Abends hastet sie von einem Solovortrag zum nächsten, um erst spätnachts schlaff wie getragene Unterwäsche ins Bett zu fallen und endlich ihre Füße ausruhen zu können. Mit Viktor verbringt sie nur noch morgens und nachts ein wenig Zeit, und gelegentlich auch ein paar kostbare Nachmittagsstunden. Sie weiß nicht mehr, in welchen Mann Polina gerade verliebt ist und wie es zwischen Vera und Gersch steht. Sie verbringen zwar immer noch manche Abende im Aurora – mit Wodka, scharfem Rettichsalat, kaltem Sellerie und Rüben in saurer Sahne –, doch Nina hat nur noch selten Zeit mitzukommen, denn obwohl sie weniger Auftritte im Bolschoi-Theater hat, tanzt sie nun auch an ihren freien Abenden. So verdienen sich die besten Tänzerinnen etwas dazu: private Konzerte und Feiern, Soloauftritte in Kinos vor Filmbeginn. An »freien« Tagen tanzt Nina schließlich mehr als an normalen Arbeitstagen. Und natürlich gibt es auch weitere diplomatische Veranstaltungen wie die, bei der sie Viktor damals kennengelernt hat.
Sie bekommt sogar eine neue, größere Garderobe auf Höhe der Bühne, die sie sich mit der anderen
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