Die Tänzerin im Schnee - Roman
bourgeoise Elemente«. Doch es ist der erste, »wurzellose Kosmopoliten«, der Nina so verräterisch erscheint. Dieser wie üblich kryptische offizielle Sprachgebrauch, dieser glänzend unbeholfene Euphemismus für »ewiger Jude«. Nina beugt den Kopf zu Viktor hinunter, als er im Flüsterton fortfährt: »Die ganze Zeit über saß Leo Stern einfach nur still neben mir. Er musste so tun, als ginge es dabei gar nicht um ihn.«
»Es ist nicht deine Schuld.«
»Das weiß ich.«
»Ich meine, du kannst nichts dagegen tun.«
»Natürlich nicht.« Er hebt die Stimme wieder auf Zimmerlautstärke an. »Es muss gesagt werden. Antipatriotismus …« Viktor seufzt laut und nimmt einen großen Schluck Wodka. »Wir haben Tolstoi, wir habenMajakowski, Gorki. Unsere Arbeit ist nicht auf den Westen angewiesen. Was wir brauchen, sind sowjetische Klassiker, wie Genosse Stalin selbst gesagt hat. ›Revolutionäre Klarheit‹ …« Er führt erneut das Glas zum Mund, und Nina sieht, dass seine Hand zittert.
»Es ist schon in Ordnung«, beruhigt sie ihn. »Keiner kann von dir erwarten, dass du … Leute in Schutz nimmst.« Doch während sie es sagt, nimmt sie einen anderen Gedanken in sich wahr: dass irgendjemand genau das tun
könnte
– jemand, der lebensmüde ist. Das erklärt auch ihre Worte, denn mit ihnen bittet sie Viktor: Komm nicht einmal auf die Idee, deine Stimme zu erheben. Bring dich nicht selbst in Gefahr. Bleib in Sicherheit. Für mich.
»Ich habe gestern zufällig Gersch getroffen«, erzählt er ihr. »Wir sind uns auf der Pretschistenka-Straße begegnet. Ich sah ihn im selben Moment, in dem er mich erkannte – und er zog den Kopf ein und schaute weg. Er wollte einfach an mir vorbeigehen. Dabei war ich vor zwei Tagen erst bei ihm zu Hause gewesen! Ich bin zu ihm gegangen und habe ihn gefragt, was das soll. Er sagte: ›Ich versuche es meinen Freunden leichtzumachen, mich zu ignorieren.‹«
Nina schließt die Augen. »Oh, Gersch … Er weiß doch, dass wir das niemals tun würden.«
»In der Zeitung war noch ein Artikel«, fährt Viktor fort. »Gestern. Es ging nicht ausdrücklich um ihn, aber sein Name wurde erwähnt.«
Nina stellt fest, dass sie es vermeidet, ihm in die Augen zu sehen. Es gibt nichts mehr zu sagen – zumindest nicht hier drinnen, mit so vielen anderen Menschen in unmittelbarer Nähe. Sie setzt sich zu Viktor auf das Kanapee, zieht ihn an sich und legt den Kopf auf seine Schulter. Sie wartet still, bis sie sicher ist, dass er nichts mehr sagen möchte.
Irgendwann muss sie es ihm doch erzählen, sie kann es also auch genauso gut jetzt tun.
Sie wollte es eigentlich irgendwo im Freien machen, da man nur dort wirklich unter sich sein kann. Ein gemeinsamer Spaziergang, nur Viktor und sie. Aber wenn sie jetzt sagte: »Lass uns spazieren gehen, was hältst du davon?«, würde sie damit nur alle möglichen Sorgen darüber hervorrufen, was sie wohl zu besprechen haben könnte – und sie will aus ihrer Neuigkeit gar keine große Sache machen.
Sie nimmt einen tiefen Atemzug und schaut auf die Tür zu Madames Zimmer. Darin brennt kein Licht; sie schläft sicher bereits. Direkt vor der Wohnungstür spricht jemand in das Flurtelefon, wiederholt immer wieder »ja, aber« und seufzt.
Ganz leise erzählt Nina Viktor, womit sie sich selbst noch nicht abgefunden hat: »Ich bin schwanger.«
Viktors Gesichtsausdruck verändert sich – erhellt sich so sichtbar, dass es Nina überrascht. »Liebste. Wie … großartig!«
Nina senkt den Blick. »Aber ich kann kein Baby bekommen«, flüstert sie. »Nicht im Augenblick. Unmöglich. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich bin erst seit drei Monaten Primaballerina.«
Viktor versteht nicht, wie schwer es ist, nach einer Schwangerschaft wieder zu tanzen – den Tribut, den eine Geburt dem Körper abverlangt, wie sie ihn aller sorgfältigen Bearbeitung zum Trotz dauerhaft verändert. Vom Zeitverlust ganz zu schweigen; ausgerechnet in den besten Jahren so viele Monate ohne Übung und Auftritte. Trotzdem hätte Nina nie gedacht, dass sie diese Entscheidung treffen würde. Noch vor einem Jahr war ihr bei dem Gedanken an ein Kind mit Viktor innerlich ganz warm geworden, die Vorstellung erschien ihr romantisch, nicht nur ein Kind, sondern eine Familie, ihre eigene Familie mit ihm zusammen zu erschaffen. Die Liebe, die sie für Viktor empfindet, würde sich bestimmt sofort auf ihre gemeinsamen Kinder ausdehnen. Nun aber weiß sie, dass dieser Traum noch warten muss und
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