Die Tänzerin im Schnee - Roman
jungen
Première Danseuse
teilt. Der Inhalt ihrer Kommode, ihr Eau de Cologne und ihre Glücksbringer, wandern also zurück in ihre kleine Tasche. Vera und Polina sind nicht da, als sie ihre Schublade ausleert und ihre Pullover, Beinwärmer, Trikothosen und -oberteile vom Kleiderhaken an der Wand nimmt.
Sie lässt ein letztes Mal den Blick durch den kleinen Raum wandern, in dem so viele ihrer Träume – die vom Ballett und die von der romantischen Liebe – wahr wurden. Und doch ist es nur ein einfaches kleines Zimmer, dessen karge Wände von einer nackten Glühbirne beleuchtet werden. Die vergilbten Zeitungsausschnitte von Polinas Kosmetiker hängen nicht mehr in einer Ecke, nachdem Polina begonnen hat, sich an Veras viel einfacheres Pflegeprogramm zu halten (Lanolinseifeund lauwarmes Wasser), als würde sie sich dadurch ebenfalls in eine Schönheit verwandeln können.
In diesem Jahr stellt Nina noch eine weitere andauernde Veränderung fest. Eine, die nichts mit dem Ballett zu tun hat. Die Stadt, das Leben in ihrer Stadt erholt sich. Die Läden in der Gorki-Straße führen mehr Waren als im letzten Jahr, Nahrungsmittel sind nicht länger knapp, es gibt Krabbenfleisch und Kaviar in Hülle und Fülle. Die Stoffe, sogar die Schnitte der Kleider haben sich verbessert – sie werden nun in besserer Qualität und größerer Auswahl angeboten. Mutter lässt sich sogar von Nina einen neuen Rock mit einem hübschen Blumenmuster schenken. Als im November die neuen Schuhe aus der Tschechoslowakei erscheinen, kann man aus einer Vielfalt von Farben und Formen wählen, die neben dem üblichen quietschenden Kunstleder auch aus Segeltuch angeboten werden.
Keine hin und her baumelnden Stromkabel mehr. Gebäude erhalten einen neuen Anstrich, lockere Steine werden neu eingesetzt, Löcher im Bürgersteig aufgeschüttet. Neue Wohnhäuser wachsen überall aus der Erde, teure Hochhäuser, manche mit verzierten Türmchen obendrauf, die sie noch höher werden lassen. In der ganzen Stadt recken sich Baukräne in den Himmel wie Skelette prähistorischer Tiere.
Genau wie Viktor immer behauptet – er hat schließlich recht behalten. Nach so vielen Jahren haben sich die Dinge endlich verbessert.
Auf dem Mochowaja-Platz pflastern junge Frauen die Straße neu. Nina läuft eines Morgens an ihnen vorbei und sieht, wie sie Steine von Lastwagen laden, Kies schaufeln und heißen Asphalt ausgießen, der sich in Klumpen an den Sohlen ihrer Schuhe festsetzt. Diese Mädchen sind in ihrem Alter – Anfang zwanzig, vielleicht sogar noch jünger –, sie tragen dünne Röcke und Kopftücher, die sie in die Kragen ihrer Steppjacken gesteckt haben. Einige fahren langsam auf Dampfwalzen die Straße entlang, wie Prinzessinnen auf feierlich geschmückten Elefanten. Aber natürlich gehören sie keineswegs einer königlichen Familie an; es sind Bauernmädchen, die aus der Steppe hergebracht wurden und in Baracken am Rand der Stadt schlafen, wohin sie jeden Abend wie Güter auf Lastwagen gestapelt zurückgefahren werden … Als Nina an ihnen vorbeieilt, steht ihr die Tatsache unangenehm klar vor Augen, dass diese Mädchen schleppen und heben,den heißen Asphalt glätten und so den Platz mit ihrer Kraft verändern.
Sie erinnert sich daran, dass auch sie selbst ihre Last zu tragen hat; die ganze Woche schon drückt sie das Gewicht ihrer eigenen misslichen Lage nieder. Sie wendet sich ab, um nicht sehen zu müssen, wie die Mädchen sich die Gesichter mit ihren Halstüchern abwischen. Am Straßenrand steht ein Mädchen auf eine Schaufel gelehnt und hält den Blick gesenkt. Obwohl Nina versucht, nicht hinzusehen, kann sie dem Anblick nicht entrinnen. Die Schultern des Mädchens heben und senken sich, während sie stumm weint.
Als Nina an diesem Abend nach Hause kommt, findet sie Viktor mit einem Glas Wodka in der Hand zurückgelehnt auf dem Kanapee, auf dem er immer schreibt. Er sieht müde und irgendwie traurig aus.
»Was ist los?«, fragt Nina. »Was ist passiert?«
»Ach, es war ja zu erwarten. Es ist unvermeidlich.« Er nimmt einen Schluck aus dem Glas. »Die üblichen Reden.« Er muss das Treffen des Schriftstellerverbandes meinen. Er senkt die Stimme. »Trotzdem schwer zu ertragen. Eine sehr lange Rede.«
»Über …?«
Ein träges Nicken mit halb geschlossenen Augen, als sollte sie es bereits wissen.
Natürlich: die Kosmopoliten.
»Bezrodnye kosmopolity«
ist ein Ausdruck, den man in diesen Tagen immer häufiger hört. Fast so oft wie »fremde
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