Die Tänzerin im Schnee - Roman
ihr verlangten. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihnen in ihrem tiefsten Inneren einfach kein Vertrauen schenkte. Nicht einem von ihnen. Es war einfach ein Gefühl, das sie nicht loswurde. In London hatte man ständig versucht, sie mit diesem Sir oder jenem Lord zu verkuppeln, man setzte sie neben attraktive Junggesellen und hoch angesehene Witwer. Ihr Leben wurde sogar noch öffentlicher, ihr Terminkalender war immer voll. Sie war stets tadellos gekleidet, trug Schmuck aus ihrer ständig wachsenden Sammlung, wurde für Zeitschriften fotografiert. Sie fühlte sich dabei jedoch nicht etwa überlegen, sondern isoliert und gehörte im Gewimmel Londons nie richtig dazu. Wenn sie sich selbst die Wahrheit eingestand, musste sie zugeben, dass sie sich dort nie richtig eingelebt hatte, sondern nur immer von einer Sache zur nächsten gestolpert war, ihre Schülerinnen hingebungsvoll unterrichtet, Premieren besucht und einen wachsenden Kreis ausgesprochen netter, aber doch nicht allzu enger Freunde zum Tee eingeladenhatte. Noch heute hielt sie Kontakt zu einigen ihrer damaligen Schülerinnen, obwohl diese mittlerweile auch schon längst nicht mehr tanzten.
Die meisten Menschen aus dieser Zeit hatte Nina jedoch schnell wieder vergessen. Vielleicht konnte sie sie in ihrer Erinnerung aufspüren, wenn sie es versuchte, aber es gab keinen Grund dafür. Außer natürlich, dass diese junge Frau von Beller sie gefragt hatte, ob sie über irgendwelches »ergänzendes Material« zu ihrem Schmuck verfügte. Vielleicht besaß sie sogar irgendwo noch Karten und Briefe und Fotografien – die französischen und britischen Juweliere umschmeichelten sie damals, luden sie ein, für dies und das Modell zu stehen, und auf den Gesellschaftsseiten wurden Bilder von ihr abgedruckt; sie war also Tag und Nacht beschäftigt und hatte einfach keine Zeit, um Erinnerungen zu sammeln.
Stattdessen tauchten nun diese alten Figuren immer wieder auf, diese ältesten Freunde von allen, die unerreichbar waren und doch mittlerweile jeden Tag für lange Minuten direkt hier vor ihr standen.
»Also, wie ist es mit ihm ausgegangen?«
Nina riss den Kopf hoch.
Cynthia saß ihr gegenüber auf dem Kanapee und schaute sie aufmerksam an. »Mit Lord … wie hieß er noch gleich? Haben Sie sich noch mal mit ihm getroffen?«
War das also schließlich das Alter? Nicht nur fortschreitende Jahre, sondern wahre Alte-Damenhaftigkeit, Demenz, wenn die Vergangenheit langsam Besitz von der Gegenwart ergreift? Sie wollte nicht einer dieser kranken alten Leute werden, die nicht mehr wussten, welcher Tag gerade war, und ihre Mahlzeiten im Bett zu sich nahmen und dabei in ihre Laken krümelten. »Ich … nun –« Sie sah aus dem Fenster, auf schneeüberkrustete Bäume. Der Schnee wurde wie Glitzerstaub durch die Luft geblasen.
Sie hatte nie gedacht, dass sie einmal senil werden könnte. In ihrer eigenen Familie war ihr kein Fall bekannt – allerdings war in jenen Jahren auch kaum jemand wirklich alt geworden.
Cynthia sagte gerade etwas über Liebhaber und Blind Dates und wie glücklich sie doch war, dank Billy all das hinter sich gelassen zu haben. An dieser Stelle machte sie eine kurze Pause, um den kleinenquadratischen Diamanten an ihrem Ringfinger zu bewundern. Billy hatte ihr am Valentinstag einen Antrag gemacht.
»Mein erster Ehemann hat mich mit Hibiskusblüten umworben. Hat mir jeden Tag welche gebracht, als hätte er nichts anderes zu tun.« Sie lachte. »Und ehe ich mich’s versah, war ich verheiratet und lebte bei meinen Schwiegereltern.«
Nina sah Cynthia an, die immer noch ihre Schwesternkleidung mit den weißen Schuhen trug, als träfe sie sie zum ersten Mal. »Sie waren verheiratet.«
»Von einundzwanzig bis vierunddreißig. Sind drei Kinder bei rausgekommen.«
Nina fragte sich, warum es sie überraschte, dass Cynthia eine eigene Familie hatte. Hatte sie es noch nie zuvor erwähnt, oder hatte Nina es vergessen?
»Charles und Raymond sind zum Studieren nach Florida gegangen und da geblieben, aber Penny ist immer noch hier. Ich bin damals allein mit den dreien nach Boston gekommen.« Sie schwieg kurz. Vielleicht aus einem Gefühl von Einsamkeit heraus, der plötzlichen Erkenntnis, alle anderen zurückgelassen zu haben. »Nächsten Monat sind es zwölf Jahre.«
Bevor sie sich daran hindern konnte, hörte Nina sich fragen: »Und deshalb sind Sie gegangen? Um Ihren Mann zu verlassen?«
»Nein, wir waren damals schon geschieden. Ich musste nur endlich einmal
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