Die Tänzerin im Schnee - Roman
dass das wohl Erwachsensein bedeutet: schwere Entscheidungen treffen, die ihr Leben wirklich beeinflussen.
Viktor passt seinen Gesichtsausdruck erneut an. »Ja, selbstverständlich.« Er atmet laut durch die Nase. »Also gut.«
»Ich wollte, dass du es weißt.« Ihre Stimme ist kaum zu hören, so leise flüstert sie. »Ich habe für Montag einen Termin vereinbart.« Der Eingriff ist illegal und könnte sie für zwei Jahre ins Gefängnis bringen – doch das hält niemanden davon ab. Zumindest niemanden, der ihn bezahlen kann. Nina weiß von ihren Kolleginnen, an wen sie sich wenden muss und wie sie dabei vorzugehen hat. Viktor nickt kurz, und Nina wird bewusst, dass sie es ihm wohl absichtlich gerade jetzt, in diesem Gebäude voller Menschen erzählt hat: um eine lange Diskussion zu vermeiden und es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Viktor greift nach ihr und zieht sie langsam über das Kanapee zu sich. »Komm her.« Zum ersten Mal erkennt Nina in seinem Gesicht einen Ausdruck, der ihm bislang – nur ihm, im Gegensatz zu allen anderen – zu fehlen schien. Resignation. Das resignierte Aussehen von müden Augen und schweren Schultern.
Nina liegt neben ihm, und er nimmt sie in den Arm und scheint sie dabei mit mehr als nur seinem Körper festzuhalten. Sie schließt die Augen und fühlt sich geborgen. Erst als sie sich völlig in Viktors Wärme hineinbegeben hat, kommt ihr der Gedanke, dass diese Umarmung, die Zuneigung dieser Arme nicht nur für sie bestimmt ist, sondern ebenso für das winzige Wesen in ihrem Bauch.
Vielleicht sollte sie Tama anrufen. Sie war Ninas einzige russische Freundin, mit der sie sich einfach ohne Anstrengung unterhalten konnte, ohne je nach dem richtigen Wort suchen zu müssen und ohne diese lästige rhetorische Distanz. Und obwohl Tama jünger als Nina war, erlebte sie doch vielleicht auch diese gelegentlichen Attacken – Erinnerungen, die sich vor ihr abspielten wie Bilder auf einer Kinoleinwand. Aber in ihrer Freundschaft ging es nicht um das Teilen von Geheimnissen. In keiner von Ninas Freundschaften ging es darum. Früher waren Geheimnisse gefährlich gewesen, und was die wenigen Geheimnisse anging, in die Nina einst eingeweiht worden war – nun, so mochte sie noch nicht einmal jetzt an sie denken. Sogar nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte, waren ihre inneren Antriebe (Schweigen und Selbstschutz) dieselben geblieben. Sie hatte sich nie ganz im Geplapper von Mädchenfreundschaften entspannt, in der albernen Sorglosigkeit, dem kreischenden Gelächter und freimütigen Flüstern, das sie um sich herum vernahm und in das man sie sogar einbeziehen wollte, das sie aber einfach nicht erwidern konnte. Nein, undenkbar, auch noch, als ihre ersten wahren Freunde, in Paris und später in London, sie mit großer Offenheit empfingen. Etwas in ihr hatte sich versteift, etwas war verschlossen. Es hatte nur wenige Jahre gedauert, bis ihr Körper von der gleichen Steifheit erfasst wurde.
Das galt auch für die Liebe, obwohl Nina zu Beginn ihres neuen Lebens noch eine, wenn auch zaghafte Hoffnung auf Romantik in sich trug. Nicht zu viel Leidenschaft. Nichts Überwältigendes. Aber esmusste doch auch noch eine andere Art von Liebe geben, weniger erfüllt und vielleicht weniger schön und trotzdem vollkommen ausreichend. Eine leichte Übergangsjacke anstelle eines Pelzmantels. Suppe und Salat anstelle eines Mahls mit acht Gängen. So etwas Einfaches wäre genug gewesen. Etwas, worauf sie sich freuen konnte.
Und es hatte ja tatsächlich viele Angebote gegeben. In Paris, wo sie vor allem eine Schlagzeile war, konnte sie sich vor Verehrern kaum retten – doch selbst die verführerischsten unter ihnen waren wie Mücken, die um ihren Kopf schwirrten. Sie verschwammen ineinander, und sie konnte sich nicht auf einen einzelnen konzentrieren. Dennoch genoss sie die Aufmerksamkeit und sagte sich, dass bestimmt irgendwann einmal jemand für sie dabei sein würde. Immerhin war sie noch jung, und ihr Geist war offen für so viel Neues. Doch ihr Herz … Nein, selbst wenn sie es gewaltsam zu öffnen versuchte, zuerst bei Armand, der groß war und stets fröhlich lachte, dann, nach einer bestürzend einfachen Trennung, bei Patrice, der schlau und schweigsam war, wollte Ninas Herz sich einfach nicht rühren.
Danach hatte sie nicht einmal mehr versucht, jemanden wirklich näher kennenzulernen. Es fiel ihr nicht leicht, sich zu »öffnen«, zu »sagen, was sie beschäftigt«, wie alle das von
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